Donnerstag, 10. März 2011

Erinnerungen an Horst Remus (1928 – 2007)

Mit kaum einem meiner IBM-Kollegen hatte ich mehr geschäftliche Kontakte, fachliche Diskussionen und private Berührungspunkte als mit Horst Remus. Wir lernten uns im November 1957 kennen. Wir wurden damals Kollegen im IBM-650-Rechenzentrum in Sindelfingen bei Stuttgart, wo er bereits seit über einem Jahr tätig war. Wir blieben beide bei der Firma IBM bis zu unserer Pensionierung, er bis 1990, ich bis Ende 1992. Unsere beruflichen Wege führten uns mal auseinander, dann wieder zusammen. Unser fachlicher wie privater Kontakt bestand über unsere ganze Berufszeit hinweg, und darüber hinaus. Im Folgenden hebe ich seinen direkten und indirekten Einfluss auf meine Berufslaufbahn besonders hervor.

Nachdem ich 1959 ein IBM-650-Rechenzentrum in Düsseldorf aufgebaut hatte, kam er kurzfristig dorthin. Im Jahre 1960 nahm er das Angebot von Karl Ganzhorn an, dem Gründer des IBM Labors Böblingen, eine Mathematische Abteilung und ein Rechenzentrum aufzubauen. Seine RZ-Gruppe war schon früh zweigeteilt. Einem Teil der Mitarbeiter oblag der Betrieb des Rechenzentrums, das eine zentrale Dienstleistung für das ganze Labor darstellte. Zuerst auf einer IBM 1620, später auf einer IBM 7090, liefen die Programme, die für physikalische Berechnungen und den Schaltkreis-Entwurf eingesetzt wurden. Diese Programme stammten vorwiegend aus amerikanischen Labors der Firma. 

 
Horst Remus 1970

Die zweite Gruppe von Mitarbeitern entwickelte eigene Programme, so z.B. einen Simulator, der es gestattete Programme in der Architektur der 1401 und später in der Architektur des System/360 auf einer IBM 7090 auszuführen und zu testen. Die Entwicklung von Systemprogrammen begann mit dem System IBM 1430, aus dem dann später das System/360 Model 20 wurde. Aus dieser Gruppe ging das heutige Software-Entwicklungszentrum Böblingen hervor. Remus stellte einige von den Kollegen ein, mit denen ich später Jahrzehnte lang zusammenarbeitete.

In der von Physikern und Elektrotechnikern bestimmten Frühzeit des Labors spielten er und seine von Mathematikern stark geprägte Gruppe eine gewisse Sonderrolle. Seine persönlichen Präferenzen kamen in folgender ihm unterstellten Vorein­genommenheit zum Ausdruck: „Wenn Herr Remus jemanden einstellt, dann muss er entweder Schachspieler sein oder aus Hamburg kommen.“ Den ersten Teil dieser Unterstellung bestätigte ein amtierender Schachgroßmeister und späterer Trainer der deutschen Schach-Nationalmannschaft (Klaus Darga), der seine hauptberufliche Basis als Systemprogrammierer im Böblinger Labor fand.

Er selbst liebte es, in seiner Korrespondenz und in seinen Texten möglichst knapp, ja fast kryptisch zu formulieren. Umso kollegialer und verbindlicher war er im persön­lichen Umgang. Bei gemeinsamen Reisen mit Remus kam es öfters vor, dass er ein Reiseschachbrett hervorzog und seinen Begleiter dazu aufforderte, eine Partie Schach mit ihm zu spielen. Ob dies für sein Gegenüber ein Vergnügen wurde, hing von dessen Spielstärke ab. Aus dieser Zeit stammen zwei frühe Veröffentlichungen von Remus. Seine Beschäftigung mit der Programmierung des japanischen Brettspiels Go führte zu einem Vortrag auf dem IFIP-Kongress 1962 in München. Das andere ist der 1963 erschienene Text über die Programmierung elektronischer Rechen­anlagen.

Schon früh hatte Remus Kontakt zur Algol-Welt. Das führte dazu, dass ich 1962 dank seiner Vermittlung zu einem Algol-Übersetzerprojekt für den Rechner IBM 7090 in das französischen Labor der IBM in der Nähe von Nizza abgeordnet wurde, zusammen mit zwei weiteren deutschen IBMern (W. Burkhardt, E. Vogt). Ich selbst befasste mich dort mit einer COBOL-bezogenen Aktivität, über die ich im Zusammen­hang mit Heinz Schappert berichtet habe. Als das 7090-Algol-Projekt wegen der bevorstehenden Ankündigung des Systems/360 abgebrochen wurde, startete Remus ein Algol-Projekt für das System/360 in Böblingen. Das Projekt wurde später im schwedischen Labor der IBM zu Ende geführt.



Horst Remus 1977 (beim Schachspiel)

Remus wechselte im Jahre 1965 von Böblingen nach Nizza in den Stab des Direktors der europäischen Labors, Byron Havens. Havens hatte zwischen 1950 und 1954 als leitender Ingenieur das NORC-Projekt (Naval Ordnance Research Calculator) an der Columbia University geleitet, und war jetzt verantwortlich für den Aufbau und die Koordination der sechs IBM Labors in Europa. Remus verantwortete den gesamten Software-Bereich, unterstützt von Peter B. Sheridan, einem der ursprünglichen Fortran-Entwickler.

Im Sommer 1968 übernahm ich einen Monat lang die Vertretung von Remus in Nizza, was meiner Frau und den Kindern zu einem ersten Wiedersehen mit der Côte d’Azur verhalf. Mir blieb vor allem in Erinnerung, dass ich in dieser Zeit eine Delegation spanischer IBMer zu Gast hatte. Sie schlugen vor, entweder in Barcelona oder Bilbao ein IBM-Software-Labor zu gründen, um der bereits bei spanischen Banken so erfolgreichen IBM-Software Produktstatus zu verleihen. Ich fand die Idee nicht schlecht und sagte dies auch den Spaniern. Sobald By Havens davon erfahren hatte, machte er mir klar, dass ich meine Kompetenzen überschritten hatte. „Wieso können Sie diesen Leuten Hoffnungen machen. Ein neues Labor zu gründen ist eine langfristige strategische Frage. Darüber kann nur das MC (das Management Committee der Firma) entscheiden“ belehrte er mich. Ich durfte zurückrudern und war damit um eine Erfahrung reicher.

Die größte europäische Aufgabe für Remus kam 1969. Nachdem die Böblinger Kollegen für ihren Vorschlag eines neuen Betriebssystems für die Kleinsysteme im unteren Bereich der System/360-Architektur Akzeptanz gefunden hatten, übernahm er das weltweite System-Management. Es handelte sich um eine mit OS/360 verträgliche Neuentwicklung. Obwohl Remus sein Büro im Zentrum von Nizza gegen eines im Industrieviertel der schwäbischen Kleinstadt Schönaich vertauschte, war dem Projekt kein Glück beschieden. Auf Betreiben des Vertriebs wurde ein Gegenvorschlag entwickelt, und zwar eine Erweiterung des bestehenden Betriebssystems DOS/360. In einem Treffen (am 11.8 1970) im Büro eines IBM-Vizepräsidenten (B.O. Evans) in White Plains, NY, bei dem ich Remus vertrat, wurde das Projekt beendet.

Das System-Management für das Alternativ-Projekt, aus dem später DOS/VS hervorging, wurde an das holländische Labor vergeben. Zum Direktor dieses Projekts wurde der damalige Leiter der Software-Gruppe im IBM Labor in Raleigh, NC, (Jim H. Frame) ernannt. Remus wurde daraufhin dessen Nachfolger als Programming Center Manager im Reseach Triangle Park in Raleigh, NC. Unter dem aus England stammenden Laborleiter John Fairclough, der später von der englischen Königin in den Adelsstand erhoben wurde, war Remus verantwortlich für Teile der Telekommunikations-Software (TCAM, NCP) der IBM. Von 1971 an blieben Remus und seine Familie in den USA. Remus nahm später auch die amerikanische Staatsbürgerschaft an.

Im Jahre 1973 wechselte Remus innerhalb der USA und ging zunächst nach Palo Alto, CA. Im Jahre 1977 übernahm er vorrübergehend die Leitung des neuen, speziell für die Software-Entwicklung gebauten Labors in Santa Teresa, CA. Später berichtete er an J.H. Frame. Hier nahm er maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der Datenbank-Systeme der IBM (IMS, DB2) und an einer Reihe von Compiler-Projekten. Später baute er in Santa Teresa eine der ersten Software-Engineering-Gruppen der IBM auf. Zusammen mit seinen Mitarbeitern Capers Jones und Steve Zilles legte er den Grundstein für die Anwendung von Software-Metriken in der IBM. Basierend auf diesen Arbeiten hat sich Capers Jones später selbständig gemacht, und ist weltweit bekannt geworden. Remus hat unter anderem von Santa Teresa aus eine Kooperation mit dem CIP-Projekt der TU München unter F.L. Bauer initiiert und jahrelang gepflegt. Remus ging im Jahre 1990 in den Ruhestand, den er größtenteils in Los Altos, CA, verbrachte. Er starb im Mai 2007 in einem Seniorenheim in Cupertino, CA.

Da Remus vier Jahre älter war als ich, behandelte er mich fast wie seinen jüngeren Bruder, mit allen Vor- und Nachteilen. Er half mir, wo er konnte, sparte aber auch nicht mit Kritik, wenn er dies für nötig ansah. Unsere älteste Tochter konnte während der Sommermonate 1986 bei der Familie Remus in Los Altos wohnen, als sie ihr Industriepraktikum bei einer Firma im Silicon Valley absolvierte.

Neben Reisen durch die ganze Welt pflegte Remus ein anderes Hobby, das ihm viel Freude machte, nämlich das Schachspiel. Während seines Ruhestands nahm er laufend an Online-Schachturnieren teil. Ich konnte sogar im Internet ein Turnier finden, das über vier Jahre lief (2002-2006) und an dem er teilnahm. Er verband beide Interessen, die für Schach und Reisen, indem er nach den historischen Quellen des Schachspiels forschte, insbesondere in Indien und entlang der Seidenstraße. Hierüber hat er auch auf einem Schachportal elektronisch publiziert. Zuletzt konnte er nur noch dank besonderer technischer Hilfsmittel einen Computer nutzen, da seine Sehkraft infolge eines Augenleidens immer mehr beeinträchtigt wurde, Ich traf Horst Remus zum letzten Mal zusammen mit seinem in der Schweiz lebenden Sohn Frank an Silvester 2002. Wir trafen uns in Säckingen am Hochrhein. 



 
Horst Remus 2002 (in Säckingen)

Remus hatte in Hamburg Mathematik studiert und ein Diplom in Angewandter Mathematik bei Lothar Collatz erworben. Er war 1956 zur IBM gekommen. Er wurde 1928 in Hildburghausen, Thüringen, geboren und war gegen Ende des zweiten Weltkrieges noch als Flakhelfer im Einsatz. Nach dem Krieg wohnte die Familie seiner Eltern eine Weile in Rostock, ehe sie nach Hamburg übersiedelte. Eine von Horst Remus‘ Töchtern lebt heute in San Jose, CA., die andere in Berlin. Seine frühere Frau lebt in Hamburg. Für wertvolle Hinweise sowie für zwei der hier verwandten Bilder danke ich Frank Remus.

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