Mittwoch, 16. März 2011

Von Euklid zu Einstein: Geometrie in Raum und Zeit

Veranlasst durch ein Buch über den Mathematiker Kaluza, das ich vor kurzem auf Empfehlung eines Freundes las, habe ich einige Gedanken über das Weltbild der Geometrie zusammengefasst und aufgeschrieben. Meine Enkelkinder (und andere interessierte Leser) mögen sich daran erfreuen. Schon als kleines Kind haben mich geometrische Formen fasziniert. Die Analytische Geometrie, wie sie von René Descartes (1596-1650) begründet worden war, war mein Lieblingsthema im Gymnasium. Es beeindruckte mich, dass man alle Kurven und Flächen mit einer Formel beschreiben kann. Ich berechnete und zeichnete Kegelschnitte (Parabeln, Ellipsen und Hyperbeln) und geometrische Körper, auch über das hinaus, was uns als Hausaufgaben gegeben wurde.

In meinem Geodäsie-Studium war es dann die sphärische Geometrie, so wie sie Altmeister Carl Friedrich Gauß (1777-1855) gelehrt hatte, die uns intensiv beschäftigte. Bei unseren Feldübungen bestimmten wir zweidimensionale Koordinaten durch Winkel- und Streckenmessungen, um sie anschließend aus einem lokalen Bezugssystem in ein übergeordnetes Bezugssystem (meist Gauß-Krüger-Koordinaten) umzurechnen. Die dritte Koordinate, die Höhe, spielte nur eine Nebenrolle. Dass die Erde kein geometrisch regelmäßiger Körper ist, d.h. dass die durch Normalnull bestimmte Fläche keine Kugeloberfläche ist, lernte ich unter anderem aus den Schweremessungen, die ich während meines Studiums analysierte. Die Abplattung der Erde an den Polen beträgt bekanntlich etwa 21 km; die übrigen Dellen liegen im Bereich mehrerer 100 m. Später wurde dank Satelliten alles sehr viel genauer vermessen, so dass Leute, die heute per GPS navigieren, nicht zu sehr in die Irre geleitet werden.

Nach diesen Bemerkungen über meinem persönlichen Einstieg noch ein paar Worte zur Geschichte der Geometrie. Sie reflektiert, wie der Mensch sich bemühte, seine irdische Umwelt wahrzunehmen und sich in ihr zu orientieren. Die Astronomen dagegen schauten auf den Himmel und versuchten zu verstehen, wo die Erde als Ganzes einzuordnen ist. Die Grundlagen der abendländischen Geometrie fasste einst Euklid (etwa 360 – etwa 280 v. Chr.) in Alexandrien zusammen. Seine Bücher kamen über die Araber und Spanien zu uns. Über sein Parallelenaxiom stritten später die Mathematiker. Sie bezweifelten, dass Euklid es benötigt hätte. Erst Ende des 19. Jahrhunderts merkte man, dass man ohne das Parallelen-Axiom eine andere Geometrie erhält. Man nennt sie heute nicht-euklidische Geometrie.

Neben C.F. Gauß kam hier sein Schüler Bernhard Riemann (1826-1866) ins Spiel. In der nach ihm benannten Riemannschen Geometrie kennt man einen Krümmungstensor. Das ist eine Formel, die ausdrückt, wie die Koordinaten eines ‚flachen‘ Raumes verformt werden, abhängig von der Art der Verkrümmung. Überblickbar ist die Sache gerade noch bei der Mannigfaltigkeit 2, also einer ‚gekrümmten‘ Fläche, wie sie Geodäten am Beispiel der einer Kugeloberfläche nachempfundenen Erdoberfläche betrachten. An dem Problem, diese gekrümmte Fläche auf flaches Papier abzubilden, versuchten sich Generationen von Kartografen. Als Mathematiker konnte Riemann der Versuchung nicht widerstehen, und errichtete ein Gedankengebäude, das auch gekrümmte Räume beliebiger Dimensionalität mit einschloss. Seither spricht man von Rn als dem Riemannschen Raum. Ich konnte ihn mir nie vorstellen.

Im Jahre 1905 hatte Albert Einstein (1879-1955) in seiner Speziellen Relativitäts­theorie einerseits postuliert, dass alle physikalischen Gesetze ihre Gültigkeit behalten, wenn man das Koordinatensystem bewegt. Andererseits kam er zu dem Schluss, dass man den Raum nicht als etwas a priori gegebenes ansehen darf. Vor allem sei er nicht starr. Da die Lichtgeschwindigkeit c nachgewiesener­maßen eine Konstante ist, muss sich bei einer Bewegung mit der Geschwindigkeit v diejenige Dimension des Raumes verändern, in welcher die Bewegung erfolgt. Als Längen­kontraktion (auch Lorentzkontraktion genannt) gab Einstein die Formel
∆L = 1/√(1-v2/c2)

an. In ähnlicher Weise wird die Zeit in die Länge gezogen, um zu verhindern, dass die Addition von Lichtgeschwindigkeiten den Wert c überschreitet. Da sich bei der Satellitennavigation relativistische Effekte sonst akkumulieren würden, müssen sie laufend berücksichtigt werden. Die Tübinger Physiker um Hanns Ruder haben in den letzten Jahren anhand von computer-generierten Filmen veranschaulicht, wie z. B. die Tübinger Altstadt oder das Brandenburger Tor in Berlin aussehen würden, wenn man sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durch sie hindurch bewegen würde. Da sich die Erde mit einem Zehntausendstel der Lichtgeschwindigkeit um die Sonne bewegt, sind auch hier die Effekte signifikant.


Erde in Umlaufbahn um Sonne: v = 30 km/s  →  ∆L = ~ 2 m
(nach H. Ruder)

Als im Jahre 1907 Hermann Minkowski (1864-1909) vorschlug, Zeit als vierte Dimension zu betrachten, hielten viele das zunächst für eine reine Frage der Notation. Selbst Einstein wusste  zunächst nichts damit anzufangen. In der später von ihm entwickelten Allgemeinen Relativitätstheorie nahm er dann doch Raum und Zeit als ein Kontinuum an, d.h. man konnte von einem ins andere übergehen. Einstein nimmt jetzt einen gekrümmten Raum an, in dem sich die Krümmung in Abhängigkeit von der Massenverteilung dynamisch verändert. Damit war es Einstein gelungen, das Phänomen der Schwerkraft geometrisch zu erklären. Was ihm nicht gelang – und wofür er den Rest seines Lebens keine Lösung fand – war der Versuch, die Gravitation in Beziehung zu setzen zu den andern drei Grundkräften der Physik, vor allem zu der Elektromagnetischen Kraft. Auf die schwache und starke Kernkraft soll hier nicht eingegangen werden. Nach Einsteins Auffassung ist das Universum unendlich aber begrenzt, ähnlich wie die Oberfläche einer Kugel.

Ein an Physik sehr interessierter Mathematiker namens Theodor Kaluza (1885- 1954) versuchte Einstein eine Brücke zu bauen. Er postulierte eine fünfte Dimension. Vier Dimensionen stellen das Raum-Zeit-Kontinuum dar. In einer fünften Dimension sollten die Maxwellschen Gesetze des Elektromagnetismus gelten. Die fünfte Dimension sei kompaktifiziert − hieß es –, das bedeutet, ihre Ausdehnung liegt in der Größenordnung der Planckschen Länge (~10-35 m). Einstein erhoffte sich, auf diesem Weg zu einer vereinheitlichten Theorie der Naturkräfte zu kommen – und ließ nicht locker. Andere Physiker sahen in Einsteins Starrköpfigkeit alsbald Zeichen von Senilität. Auch Wolfgang Pauli (1900-1958) spottete, Einstein solle nicht versuchen zu vereinen, was Gott getrennt hätte. 

Physiker nach Einstein griffen das Problem wieder auf und suchten weiter nach der einheitlichen Weltformel. Eine Gruppe von Theorien, die beanspruchen eine Antwort zu geben, sind die String-Theorien. Hier sind die kleinsten Teilchen nicht punkt­förmig, sondern haben die Form kleiner Röhrchen oder komplexerer Gebilde in elf Dimensionen. An dieser Stelle wird die Physik sehr unanschaulich. Ob die String-Theoretiker wirklich viel weiter gelangen werden als Einstein, wird von manchen Leuten bezweifelt.

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