Samstag, 19. Januar 2019

Lektionen für das 21. Jahrhundert (frei nach Yuval Noah Harari)

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari (*1976) hat mit mehreren seiner Büchern Aufmerksamkeit hervorgerufen. Im Januar 2014, also vor genau fünf Jahren, besprach ich sein 2011 erschienenes Buch über die Geschichte der Menschheit. Seinen Zukunftsroman Homo Deus stellte ich in seinem Erscheinungsjahr 2017 vor. Das Buch, das ich gerade las, hat den Titel 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Es erschien im Dezember 2018 und umfasst 459 Seiten. Ich entschied mich für die englische Version, nicht nur weil sie prägnanter formuliert ist, sondern auch weil sie billiger ist als die Übersetzung (12,99 anstatt 19,99 €).

Geschichte und ihre Lektionen

Wenn ein Historiker sich anmaßt, uns Lektionen zu erteilen, ist man geneigt, etwas mitleidig darüber hinwegzusehen. Bei Harari ist dies jedoch anders. Er erzählt ja nicht nur, wie es früher war, sondern hat sich auch mehr Gedanken über die Zukunft gemacht als die meisten von uns. Wie bei seinen früheren Büchern besticht der Autor nicht nur durch seine intellektuelle Unabhängigkeit und Beweglichkeit, sondern auch durch seine breite und unvoreingenommene Weltsicht. Sein Realitätssinn, sein trockner Humor und sein lockerer Stil sind beeindruckend.

Im vorliegenden Buch greift Harari 21 Themengebiete heraus, zu denen er mehr oder weniger gründlich überlegte Aussagen macht. Es sind fast immer Problembeschreibungen verbunden mit Prognosen und Ratschlägen. Die Themen sind in fünf Gruppen zusammengefasst, nämlich Technische Herausforderungen, Politische Herausforderungen, Verzweiflung und Hoffnung, Wahrheit, Anpassungsfähigkeit (engl. resilience). Die Zuordnung der Themen kann der beigefügten Tabelle entnommen werden. Anstatt auf alle 21 Themen einzugehen, greife ich im Folgenden diejenigen heraus, die mir besonders interessant erschienen.



Ernüchterung

Wer glaubt, dass einzelne Menschen keinen Einfluss auf die Weltgeschichte haben, der sei an Mohamed Bouazizi aus Tunisien erinnert. Er hat einst durch seine Selbstverbrennung die Arabische Rebellion ausgelöst. Menschen leben von und für Geschichten. In früheren Generationen waren dies Faschismus und Kommunismus. Sie sind lange überwunden. Das Versprechen einer liberalen Gesellschaft ist aber noch lange nicht eingelöst. Zwar breiteten sich Frieden und Wohlstand aus, aber seit 2008 greift eine Desillusionierung um sich. Brexit und Trump sind nur zwei Beispiele.

Die liberale Erzählung musste immer wieder Rückschläge erfahren. Das war 1914 der Fall, als alle Ansätze durch den ersten Weltkrieg zunichte gemacht wurde, aber auch 1939, als die Nazis über ganz Europa herfielen, und 1948, als der Kommunismus damit begann, sich auszubreiten. Wenn heute Nationalisten sich wieder breit machen, so haben sie keinerlei Antworten zu den drängenden globalen Problemen der Menschheit wie Hunger und Umweltzerstörung. Außerdem sind sie blind für die Disruptionen, die von Bio- und Informationstechnik gerade ausgelöst werden.

Arbeit

Von Automation und Digitalisierung werden sicherlich viele Arbeitsplätze verändert oder überflüssig gemacht. Es ist jedoch vollkommen falsch zu versuchen, die Arbeitsplätze zu schützen oder zu retten. Das betrifft besonders diejenigen, die heute eine Plagerei darstellen, etwa in der Holz-, Papier- und Druckindustrie. Man sollte sich jedoch um die betroffenen Menschen kümmern. Man muss auch älteren Mitarbeitern bei der Umschulung helfen. Junge Menschen sollte man vor aussterbenden Berufen warnen.

Gefährdet sind alle Berufe, bei denen routinemäßige Messungen und Auswertungen eine große Rolle spielen. Gebraucht werden Berufe, die sich sehr um Menschen kümmern. In diesem Sinne werden manche heute von ausgebildeten Medizinern ausgeübte Tätigkeiten überflüssig, so die eines Radiologen. Der Bedarf an Krankenschwestern und Pflegern wird weiter wachsen. Neue Berufe entstehen überall da, wo neue Technik zum Einsatz kommt. So erfordert jede Drohne, die vom Militär oder in der Wirtschaft eingesetzt wird, mindestens 20 Leute, um ihren Einsatz zu planen, sie zu steuern und um ihre Beobachtungen auszuwerten.

Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) stellt das Versprechen eines kapitalistischen Paradieses dar. Sie ist vergleichbar mit dem Versprechen eines kommunistischen Paradieses, wo Nahrungsmittel, Wohnungen und medizinische und andere Dienstleistungen kostenlos sind − zumindest für die Funktionäre. In Israel genießen 50% aller orthodoxen Juden ein BGE. Sie vollführen religiöse Riten und setzen im Schnitt sieben Kinder in die Welt.

Freiheit

Meist entscheiden wir nicht aufgrund rationalen Denkens, sondern aufgrund von Gefühlen. Dass Google und Baidu bald mehr über unsere Gefühle wissen als wir selber, ist zu erwarten. Überhaupt können alsbald Algorithmen bessere Entscheidungen fällen als Menschen. Was das bedeutet, wissen wir noch nicht. Vermutlich werden wir uns aber daran gewöhnen.

Computer können kein Bewusstsein haben, da wir ja selbst nicht wissen, was es ist. Anstatt ein selbstfahrendes Auto zu bauen, das ethische Entscheidungen fällt, wird uns Tesla je eine altruistische und eine egoistische Version desselben Autos anbieten. Das ist eine leichter zu lösende Aufgabe.

Gleichheit

Dass alle Menschen gleich seien, war nie mehr als eine Illusion. Selbst Jäger und Sammler waren unterschiedlich begabt. Mit dem Landbesitz wurden die Unterschiede offensichtlicher. Bis zum Jahre 2100 werden Leute, die reicher sind, nicht nur gesünder sein, sondern auch begabter sein und besser aussehen als der Rest. Sie werden vor allem mehr Daten besitzen. Wenn vor die Wahl gestellt, ob ich meine Daten Privatleuten oder dem Staat gebe, ist die Antwort nicht immer gleich. Der Autor gibt seine Daten jedenfalls lieber an Mark Zuckerberg als dem russischen Staat.

Zivilisation

Es sei eine Aussage über den gesellschaftlichen Fortschritt, wenn wir den Begriff der Zivilisation benutzen. In zivilisatorischer Hinsicht haben wir mit den entferntesten Gruppen unserer Erde mehr gemeinsam als mit unsern Vorfahren von vor 100 Jahren. Manche Autoren (unter anderem Pankaj Mishra) sehen die Menschheit auf dem Weg zu einer einheitlichen Weltzivilisation. Der von Autoren wie Samuel Huntington vorhergesagte Zusammenprall (engl. clash) beziehe sich auf Kulturen, nicht auf die Zivilisation. Einzelne Merkmale, wie die Stellung der Frau oder die Haltung gegenüber Homosexuellen, ändern sich zwar äußerst langsam, aber immer in Richtung von mehr Toleranz und Diversität.

Ökologie

Die Rettung der globalen Naturschätze wie Korallenriffe, Regenwald oder Polareis überfordert einzelne Länder. Dasselbe gilt für einige der von Menschen verursachten Bedrohungen wie Klimawandel und Atomkrieg. Um gegenzusteuern, bedarf es internationale Kooperation.

Religion

Das Thema Religion sei irrelevant für die Lösung technischer oder politischer Fragen. Es gibt jedoch häufig Anlass zu einer Identitätsdiskussion. Diese kann dazu führen, dass sich eine Ethnie völlig überbewertet. Das jüdische Volk, das 0,2% der Weltbevölkerung ausmacht, sieht sich gerne auf derselben Ebene wie Christentum, Islam und Buddhismus. Zu sagen, das Judentum sei wichtig, also einflussreich, sei typisch für die Denkweise von Antisemiten. Dass 20% aller Nobelpreise an Juden gingen, sei kein Verdienst der jüdischen Glaubensgemeinschaft, sondern das Ergebnis der Befruchtung einzelner jüdischer Gruppen durch die Ideen der europäischen Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert.

Manche der ethischen Regeln, die man mit den Lehren großer Religionen in Verbindung bringt, sind älteren Datums (Hammurabi, Konfuzius). Der Moralbegriff lässt sich sogar bei allen Säugetieren ausmachen, die in Verbänden leben. Auch sie versuchen es, unnötiges Leid zu vermeiden. Der Monotheismus erwies sich als besonders intolerant gegenüber andern Denkweisen und Bewegungen. So hat Kaiser Theodosius im Jahre 391 schließlich die Olympischen Spiele verboten, nachdem sie viele Jahrhunderte lang Griechen aus dem gesamten Siedlungsraum zusammengeführt hatten.

Das Bedürfnis nach Religiosität ist universell. Wo und wann immer es zu Opfern und Leiden kommt, werden religiöse Vorstellungen zur Erklärung bemüht. Davon zu unterscheiden sind die Ausprägungen in Form bestimmter Organisationen.

Immigration

Die vielen Wanderbewegungen belegen, dass einige Kulturen besser, d.h. beliebter sind als andere. Syrer zieht es nach Deutschland anstatt nach Saudi-Arabien, obwohl das Land nicht reicher ist, aber einen besseren Ruf hat bezüglich seiner Aufnahmebereitschaft. Toleranz verlangt nicht, dass Anti-Semitismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie geduldet werden müssen. Ein Gastland darf erwarten, dass spätestens die dritte Generation sich voll angepasst hat.

Rassismus

Der Begriff der Rasse ist überholt. Anstatt Rassisten bestimmen heute Kulturisten die Diskussion. Kulturelle Unterschiede können nicht übersehen oder geleugnet werden. Ihr Ursprung ist nicht biologisch, sondern historisch zu erklären.

Terrorismus

Der Terror ist die Methode eines Schwächlings, eines Unterlegenen. Er weiß, dass er nicht die Oberhand gewinnen kann. Er will aber Schrecken verbreiten und die Leute verunsichern. Deshalb hofft er, dass die Tat Eindruck macht. Einstürzende Türme bewirken mehr als viele Tote. In Europa sterben jährlich im Schnitt 50 Menschen durch Terroranschläge, verglichen zu 80.000 durch Verkehrsunfälle. In Israel sind es rund 500 Terroropfer pro Jahr. Der entschlossene Einsatz der Polizei ist eminent wichtig, nicht jedoch der ausführliche Pressebericht. Die Situation ändert sich, sollten Terroristen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen.

Krieg

Krieg ist ein Auswuchs menschlicher Dummheit, und Dummheit endet nie. Kriege führen äußerst selten zu einem Gewinn. Putin scheint dies jedoch nicht zu glauben, vor allem wenn er den Eindruck erweckt, dass es andere sind, die für ihn die Drecksarbeit machen wie auf der Krim und in der Ostukraine. Ein Cyberkrieg ist besonders hinterhältig. Jemand kann ein Stromnetz in Michigan lahm legen, ohne den Atlantik zu überqueren.

Säkularismus

Was man einst von frommen Herrschern erwartete, erwartet man heute vom säkularen Staat. Er soll auf dem Moralgefühl der Edlen und der Weisheit der Klugen basieren. Er soll sich darum kümmern, dass Wahrheit, Mitgefühl, Gleichheit und Freiheit beachtet werden. Er ist der Charter der Menschenrechte verpflichtet. Wieweit Menschenrechte einmal auch auf Cyborgs, Übermenschen oder Intelligenz besitzende Maschinen ausgedehnt werden müssen, ist eine offene Frage.

Ignoranz

Wie bereits erwähnt, sei es als Mythos erkannt, dass ein Individuum vorwiegend rational denkt. Das Gefühl breche immer wieder durch. Oft bilden wir uns ein, mehr zu wissen als wir tatsächlich tun. Wissen zu besitzen heißt noch nicht, dass wir es auch anwenden. Die Beeinflussung durch Kollegen (engl.: group think) ist nicht zu leugnen. Davon sollen selbst Wissenschaftler nicht ausgenommen sein.

Post-Wahrheit

Sowohl im politischen wie im wirtschaftlichen Leben spielt Werbung, auch Propaganda genannt, eine erhebliche Rolle. Wenn immer die einfache Wahrheit nicht reicht, kommt ihre Weiterentwicklung zur Post-Wahrheit (engl.: post-truth) zum Einsatz. Fake news sind eine besonders aktuelle Form. Entscheidend ist, dass man damit Menschen beeinflusst. Ihre Verbreitung erfolgt gezielt. Ihre Wirkung ist weit gestreut und lang anhaltend.

Bildung

Das Lernen von Fakten wird immer unattraktiver. Viel günstiger ist das Suchen im Netz. Was Wikipedia an Wissen enthält, kann man während eines Lebens kaum noch lesen. Was davon in 2050 noch relevant ist, ist heute schwer zu sagen. Es scheint, als ob geistige Beweglichkeit und emotionale Ausbalancierung eine zunehmende Rolle spielen werden. Die Frage stellt sich: Wie kann man zu einer Selbstkenntnis gelangen, die nicht gleich ist mit dem, was Amazon, Google und Baidu bereits über einen wissen?

Sinn des Lebens

Über den Sinn des Lebens haben Menschen überall auf der Welt und zu allen Zeiten nachgedacht. Sie haben sich eine Unzahl von Geschichten (engl.: stories) erzählt. Einige sagen, unser Leben sei Teil eines großen, unendlich andauernden Zyklus, in dem Alles mit Allem verbunden ist. Nach heutiger wissenschaftlicher Lehrmeinung kann diese Ewigkeit bestenfalls 13,8 Milliarden Jahre angedauert haben. Davor gab es kein Leben. Sollte jemand mehr als eine Million Jahre gelebt haben, muss er zwischendurch ein Dinosaurier und davor eine Amöbe gewesen sein. Sowohl nach buddhistischer wie nach hinduistischer Lehre muss jeder Mensch sein persönliches Dharma, sein Daseinsgesetz, finden.

Will man seinem Leben Sinn geben, kann dies nur geschehen, indem man es in einen Zusammenhang zu etwas stellt, was größer ist als man selbst. Das kann die Familie sein, die Region oder die Weltbevölkerung. Nach Hararis Meinung zählt dabei nur, was entweder die Kreativität oder die Freiheit von Menschen fördert. Von mehreren Beispielen, die er anführt, seien zwei erwähnt (a) ein Gedicht schreiben oder (b) einem Mädchen dabei helfen Lesen zu lernen. Oder anders ausgedrückt: Sinnvoll ist, was Leiden reduziert. Das Leben ist nämlich mehr als nur eine Erzählung.

Meditation

Aus seiner persönlichen Erfahrung berichtet der Autor, dass es eine besondere Form von Meditieren war, die ihm half. Es sei die Vipassana-Methode. Sie baut darauf auf, genau zu beobachten wie der eigene Atem den Körper verlässt bzw. in ihn eintritt. Anschließend verfolgt man, wie das eigene Gehirn Stimmungen und Gefühle erzeugt. Man kann auch sagen, dass das Gehirn (engl. brain) hierzu benutzt wird, von etwas, dass man als Geist oder Psyche (engl. mind) bezeichnet. Damit sind wir aber bereits in einem Bereich des Wissens, wo noch vieles offen ist.

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