Der israelische Historiker Yuval Noah
Harari (*1976) hat mit mehreren seiner Büchern Aufmerksamkeit hervorgerufen.
Im Januar 2014, also vor genau fünf Jahren, besprach ich sein 2011 erschienenes
Buch über die Geschichte der Menschheit.
Seinen Zukunftsroman Homo Deus stellte
ich in seinem Erscheinungsjahr 2017 vor. Das Buch, das ich gerade las, hat den
Titel 21 Lektionen für das 21.
Jahrhundert. Es erschien im Dezember 2018 und umfasst 459 Seiten. Ich entschied
mich für die englische Version, nicht nur weil sie prägnanter formuliert ist,
sondern auch weil sie billiger ist als die Übersetzung (12,99 anstatt 19,99 €).
Geschichte und ihre Lektionen
Wenn ein Historiker sich anmaßt, uns Lektionen zu erteilen, ist
man geneigt, etwas mitleidig darüber hinwegzusehen. Bei Harari ist dies jedoch anders.
Er erzählt ja nicht nur, wie es früher war, sondern hat sich auch mehr Gedanken
über die Zukunft gemacht als die meisten von uns. Wie bei seinen früheren
Büchern besticht der Autor nicht nur durch seine intellektuelle Unabhängigkeit
und Beweglichkeit, sondern auch durch seine breite und unvoreingenommene Weltsicht.
Sein Realitätssinn, sein trockner Humor und sein lockerer Stil sind beeindruckend.
Im vorliegenden Buch greift Harari 21 Themengebiete heraus, zu
denen er mehr oder weniger gründlich überlegte Aussagen macht. Es sind fast
immer Problembeschreibungen verbunden mit Prognosen und Ratschlägen. Die Themen
sind in fünf Gruppen zusammengefasst, nämlich Technische Herausforderungen, Politische
Herausforderungen, Verzweiflung und Hoffnung, Wahrheit, Anpassungsfähigkeit
(engl. resilience). Die Zuordnung der
Themen kann der beigefügten Tabelle entnommen werden. Anstatt auf alle 21
Themen einzugehen, greife ich im Folgenden diejenigen heraus, die mir besonders
interessant erschienen.
Ernüchterung
Wer glaubt, dass einzelne Menschen keinen Einfluss auf die
Weltgeschichte haben, der sei an Mohamed Bouazizi aus Tunisien erinnert. Er hat
einst durch seine Selbstverbrennung die Arabische Rebellion ausgelöst. Menschen
leben von und für Geschichten. In früheren Generationen waren dies Faschismus
und Kommunismus. Sie sind lange überwunden. Das Versprechen einer liberalen
Gesellschaft ist aber noch lange nicht eingelöst. Zwar breiteten sich Frieden
und Wohlstand aus, aber seit 2008 greift eine Desillusionierung um sich. Brexit
und Trump sind nur zwei Beispiele.
Die liberale Erzählung musste immer wieder Rückschläge erfahren.
Das war 1914 der Fall, als alle Ansätze durch den ersten Weltkrieg zunichte
gemacht wurde, aber auch 1939, als die Nazis über ganz Europa herfielen, und
1948, als der Kommunismus damit begann, sich auszubreiten. Wenn heute
Nationalisten sich wieder breit machen, so haben sie keinerlei Antworten zu den
drängenden globalen Problemen der Menschheit wie Hunger und Umweltzerstörung. Außerdem
sind sie blind für die Disruptionen, die von Bio- und Informationstechnik
gerade ausgelöst werden.
Arbeit
Von Automation und Digitalisierung werden sicherlich viele
Arbeitsplätze verändert oder überflüssig gemacht. Es ist jedoch vollkommen
falsch zu versuchen, die Arbeitsplätze zu schützen oder zu retten. Das betrifft
besonders diejenigen, die heute eine Plagerei darstellen, etwa in der Holz-,
Papier- und Druckindustrie. Man sollte sich jedoch um die betroffenen Menschen
kümmern. Man muss auch älteren Mitarbeitern bei der Umschulung helfen. Junge
Menschen sollte man vor aussterbenden Berufen warnen.
Gefährdet sind alle Berufe, bei denen routinemäßige Messungen und
Auswertungen eine große Rolle spielen. Gebraucht werden Berufe, die sich sehr
um Menschen kümmern. In diesem Sinne werden manche heute von ausgebildeten
Medizinern ausgeübte Tätigkeiten überflüssig, so die eines Radiologen. Der
Bedarf an Krankenschwestern und Pflegern wird weiter wachsen. Neue Berufe
entstehen überall da, wo neue Technik zum Einsatz kommt. So erfordert jede
Drohne, die vom Militär oder in der Wirtschaft eingesetzt wird, mindestens 20
Leute, um ihren Einsatz zu planen, sie zu steuern und um ihre Beobachtungen
auszuwerten.
Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) stellt das
Versprechen eines kapitalistischen Paradieses dar. Sie ist vergleichbar mit dem
Versprechen eines kommunistischen Paradieses, wo Nahrungsmittel, Wohnungen und
medizinische und andere Dienstleistungen kostenlos sind − zumindest für die
Funktionäre. In Israel genießen 50% aller orthodoxen Juden ein BGE. Sie
vollführen religiöse Riten und setzen im Schnitt sieben Kinder in die Welt.
Freiheit
Meist entscheiden wir nicht aufgrund rationalen Denkens, sondern aufgrund von Gefühlen. Dass
Google und Baidu bald mehr über unsere Gefühle wissen als wir selber, ist zu
erwarten. Überhaupt können alsbald Algorithmen bessere Entscheidungen fällen
als Menschen. Was das bedeutet, wissen wir noch nicht. Vermutlich werden wir
uns aber daran gewöhnen.
Computer können kein Bewusstsein haben, da wir ja selbst nicht
wissen, was es ist. Anstatt ein selbstfahrendes Auto zu bauen, das ethische
Entscheidungen fällt, wird uns Tesla je eine altruistische und eine egoistische
Version desselben Autos anbieten. Das ist eine leichter zu lösende Aufgabe.
Gleichheit
Dass alle Menschen gleich seien, war nie mehr als eine Illusion.
Selbst Jäger und Sammler waren unterschiedlich begabt. Mit dem Landbesitz
wurden die Unterschiede offensichtlicher. Bis zum Jahre 2100 werden Leute, die
reicher sind, nicht nur gesünder sein, sondern auch begabter sein und besser
aussehen als der Rest. Sie werden vor allem mehr Daten besitzen. Wenn vor die
Wahl gestellt, ob ich meine Daten Privatleuten oder dem Staat gebe, ist die
Antwort nicht immer gleich. Der Autor gibt seine Daten jedenfalls lieber an Mark Zuckerberg
als dem russischen Staat.
Zivilisation
Es sei eine Aussage über den gesellschaftlichen Fortschritt, wenn
wir den Begriff der Zivilisation benutzen. In zivilisatorischer Hinsicht haben
wir mit den entferntesten Gruppen unserer Erde mehr gemeinsam als mit unsern
Vorfahren von vor 100 Jahren. Manche Autoren (unter anderem Pankaj Mishra) sehen
die Menschheit auf dem Weg zu einer einheitlichen Weltzivilisation. Der von Autoren
wie Samuel
Huntington vorhergesagte Zusammenprall (engl. clash) beziehe sich auf Kulturen, nicht auf die Zivilisation. Einzelne
Merkmale, wie die Stellung der Frau oder die Haltung gegenüber Homosexuellen,
ändern sich zwar äußerst langsam, aber immer in Richtung von mehr Toleranz und
Diversität.
Ökologie
Die Rettung der globalen Naturschätze wie Korallenriffe, Regenwald
oder Polareis überfordert einzelne Länder. Dasselbe gilt für einige der von
Menschen verursachten Bedrohungen wie Klimawandel und Atomkrieg. Um
gegenzusteuern, bedarf es internationale Kooperation.
Religion
Das Thema Religion sei irrelevant für die Lösung technischer oder
politischer Fragen. Es gibt jedoch häufig Anlass zu einer Identitätsdiskussion.
Diese kann dazu führen, dass sich eine Ethnie völlig überbewertet. Das jüdische
Volk, das 0,2% der Weltbevölkerung ausmacht, sieht sich gerne auf derselben
Ebene wie Christentum, Islam und Buddhismus. Zu sagen, das Judentum sei
wichtig, also einflussreich, sei typisch für die Denkweise von Antisemiten. Dass
20% aller Nobelpreise an Juden gingen, sei kein Verdienst der jüdischen
Glaubensgemeinschaft, sondern das Ergebnis der Befruchtung einzelner jüdischer Gruppen
durch die Ideen der europäischen Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert.
Manche der ethischen Regeln, die man mit den Lehren großer
Religionen in Verbindung bringt, sind älteren Datums (Hammurabi, Konfuzius). Der
Moralbegriff lässt sich sogar bei allen Säugetieren ausmachen, die in Verbänden
leben. Auch sie versuchen es, unnötiges Leid zu vermeiden. Der Monotheismus erwies
sich als besonders intolerant gegenüber andern Denkweisen und Bewegungen. So
hat Kaiser Theodosius im Jahre 391 schließlich die Olympischen Spiele verboten,
nachdem sie viele Jahrhunderte lang Griechen aus dem gesamten Siedlungsraum
zusammengeführt hatten.
Das Bedürfnis nach Religiosität ist universell. Wo und wann immer
es zu Opfern und Leiden kommt, werden religiöse Vorstellungen zur Erklärung
bemüht. Davon zu unterscheiden sind die Ausprägungen in Form bestimmter
Organisationen.
Immigration
Die vielen Wanderbewegungen belegen, dass einige Kulturen besser,
d.h. beliebter sind als andere. Syrer zieht es nach Deutschland anstatt nach
Saudi-Arabien, obwohl das Land nicht reicher ist, aber einen besseren Ruf hat
bezüglich seiner Aufnahmebereitschaft. Toleranz verlangt nicht, dass
Anti-Semitismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie geduldet werden müssen. Ein
Gastland darf erwarten, dass spätestens die dritte Generation sich voll
angepasst hat.
Rassismus
Der Begriff der Rasse ist überholt. Anstatt Rassisten bestimmen heute
Kulturisten die Diskussion. Kulturelle Unterschiede können nicht übersehen oder
geleugnet werden. Ihr Ursprung ist nicht biologisch, sondern historisch zu
erklären.
Terrorismus
Der Terror ist die Methode eines Schwächlings, eines Unterlegenen.
Er weiß, dass er nicht die Oberhand gewinnen kann. Er will aber Schrecken
verbreiten und die Leute verunsichern. Deshalb hofft er, dass die Tat Eindruck
macht. Einstürzende Türme bewirken mehr als viele Tote. In Europa sterben
jährlich im Schnitt 50 Menschen durch Terroranschläge, verglichen zu 80.000
durch Verkehrsunfälle. In Israel sind es rund 500 Terroropfer pro Jahr. Der
entschlossene Einsatz der Polizei ist eminent wichtig, nicht jedoch der
ausführliche Pressebericht. Die Situation ändert sich, sollten Terroristen in den Besitz von
Massenvernichtungswaffen gelangen.
Krieg
Krieg ist ein Auswuchs menschlicher Dummheit, und Dummheit endet nie.
Kriege führen äußerst selten zu einem Gewinn. Putin scheint dies jedoch nicht zu
glauben, vor allem wenn er den Eindruck erweckt, dass es andere sind, die für
ihn die Drecksarbeit machen wie auf der Krim und in der Ostukraine. Ein Cyberkrieg
ist besonders hinterhältig. Jemand kann ein Stromnetz in Michigan lahm legen,
ohne den Atlantik zu überqueren.
Säkularismus
Was man einst von frommen Herrschern erwartete, erwartet man heute
vom säkularen Staat. Er soll auf dem Moralgefühl der Edlen und der Weisheit
der Klugen basieren. Er soll sich darum kümmern, dass Wahrheit, Mitgefühl, Gleichheit und
Freiheit beachtet werden. Er ist der Charter der Menschenrechte verpflichtet.
Wieweit Menschenrechte einmal auch auf Cyborgs, Übermenschen oder Intelligenz besitzende
Maschinen ausgedehnt werden müssen, ist eine offene Frage.
Ignoranz
Wie bereits erwähnt, sei es als Mythos erkannt, dass ein Individuum vorwiegend rational denkt. Das Gefühl breche immer wieder durch. Oft bilden wir uns ein, mehr zu wissen als wir tatsächlich tun. Wissen zu besitzen heißt noch nicht, dass wir es auch anwenden. Die Beeinflussung durch
Kollegen (engl.: group think) ist nicht
zu leugnen. Davon sollen selbst Wissenschaftler nicht ausgenommen sein.
Post-Wahrheit
Sowohl im politischen wie im wirtschaftlichen Leben spielt
Werbung, auch Propaganda genannt, eine erhebliche Rolle. Wenn immer die
einfache Wahrheit nicht reicht, kommt ihre Weiterentwicklung zur Post-Wahrheit
(engl.: post-truth) zum Einsatz. Fake news sind eine besonders aktuelle
Form. Entscheidend ist, dass man damit Menschen beeinflusst. Ihre Verbreitung
erfolgt gezielt. Ihre Wirkung ist weit gestreut und lang anhaltend.
Bildung
Das Lernen von Fakten wird immer unattraktiver. Viel günstiger ist
das Suchen im Netz. Was Wikipedia an Wissen enthält, kann man während eines Lebens
kaum noch lesen. Was davon in 2050 noch relevant ist, ist heute schwer zu
sagen. Es scheint, als ob geistige Beweglichkeit und emotionale Ausbalancierung
eine zunehmende Rolle spielen werden. Die Frage stellt sich: Wie kann man zu
einer Selbstkenntnis gelangen, die nicht gleich ist mit dem, was Amazon, Google
und Baidu bereits über einen wissen?
Sinn des Lebens
Über den Sinn des Lebens haben Menschen überall auf der Welt und
zu allen Zeiten nachgedacht. Sie haben sich eine Unzahl von Geschichten (engl.:
stories) erzählt. Einige sagen, unser
Leben sei Teil eines großen, unendlich andauernden Zyklus, in dem Alles mit
Allem verbunden ist. Nach heutiger wissenschaftlicher Lehrmeinung kann diese
Ewigkeit bestenfalls 13,8 Milliarden Jahre angedauert haben. Davor gab es kein
Leben. Sollte jemand mehr als eine Million Jahre gelebt haben, muss er
zwischendurch ein Dinosaurier und davor eine Amöbe gewesen sein. Sowohl nach
buddhistischer wie nach hinduistischer Lehre muss jeder Mensch sein
persönliches Dharma, sein Daseinsgesetz, finden.
Will man seinem Leben Sinn geben, kann dies nur geschehen, indem
man es in einen Zusammenhang zu etwas stellt, was größer ist als man selbst.
Das kann die Familie sein, die Region oder die Weltbevölkerung. Nach Hararis
Meinung zählt dabei nur, was entweder die Kreativität oder die Freiheit von
Menschen fördert. Von mehreren Beispielen, die er anführt, seien zwei erwähnt
(a) ein Gedicht schreiben oder (b) einem Mädchen dabei helfen Lesen zu lernen. Oder
anders ausgedrückt: Sinnvoll ist, was Leiden reduziert. Das Leben ist nämlich mehr
als nur eine Erzählung.
Meditation
Aus seiner persönlichen Erfahrung berichtet der Autor, dass es
eine besondere Form von Meditieren war, die ihm half. Es sei die Vipassana-Methode.
Sie baut darauf auf, genau zu beobachten wie der eigene Atem den Körper
verlässt bzw. in ihn eintritt. Anschließend verfolgt man, wie das eigene Gehirn
Stimmungen und Gefühle erzeugt. Man kann auch sagen, dass das Gehirn (engl. brain) hierzu benutzt wird, von etwas,
dass man als Geist oder Psyche (engl. mind)
bezeichnet. Damit sind wir aber bereits in einem Bereich des Wissens, wo noch
vieles offen ist.
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