Montag, 16. Juli 2012

Hervorbringung von Intelligenz – die Sicht der Neurobiologie

Nach meinem Beitrag über Higgs vor einer Woche tauschten sich meine Freunde Hans Diel und Peter Hiemann weiter intensiv darüber aus, welches Gebiet welche Fragen besser lösen kann, Physik oder Biologie. Ich gebe die wesentlichen Teile der Diskussion wieder. Um das Lesen zu vereinfachen, füge ich einige Kommentare an den Stellen ein, auf die sie sich bezogen und verlasse damit etwas die chronologische Sequenz.

Am 8.7.20 12 schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:

…es besteht kein Zweifel (meinerseits), dass die Hervorbringung intelligenter Systeme dem Teil der Natur vorbehalten war, der durch die Biologie beschrieben wird, und nur zu geringem oder keinem Ausmaß dem Teil, der durch die Physik beschrieben wird. Dies ist eine ganz triviale Folge der Aufgaben- und Themenaufteilung zwischen den beiden naturwissenschaftlichen Disziplinen.

Genauso wie auch die unterschiedliche Vorhersagefähigkeit der beiden Disziplinen eine Folge der Aufgaben- und Themenaufteilung  ist, und nicht etwa eine Folge der unterschiedlichen Qualität von Physikern einerseits und Biologen andererseits. Deshalb kann man auch den Biologen keinen Vorwurf machen, dass das Thema "Hervorbringung von Intelligenz" zweifellos in ihr Themenbereich fällt, sie es aber bisher nicht geschafft haben, eine nur einigermaßen überzeugende Theorie bzgl. der Faktoren und Prozesse, die zur Entstehung von Intelligenz führen, gefunden zu haben.

Am 10.7.2012, 13:54 Uhr, schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

Ich beurteile den Stand des heutigen neurologischen Wissens etwas positiver. Vorab etwas zur Bedeutung dessen, was ich mit dem Wort „Intelligenz“ verknüpfe. Landläufig spricht man von „Intelligenz“, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass man einem Menschen „intelligentes Verhalten“ zutraut. Ich verstehe darunter alle Phänomene, die Ausdruck neuronaler Prozesse sind. Neurobiologen befassen sich generell mit den Funktionen von Nervenzellen und neuronalen Netzwerken. Auf Grund meiner Studien kann ich Sie auf ein paar Arbeiten renommierter Neurobiologen hinweisen.

Berühmt sind Eric Kandels Arbeiten, der für seine Forschungen das relativ einfache Nervensystem der Meeresschnecke Aplysia californica benutzte. Was er dabei herausfand, hat er in seinem Buch „Auf der Suche nach dem Gedächtnis – Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes“ beschrieben. Kandel erhielt für seine Arbeiten im Jahre 2000 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin (zusammen mit dem Schweden Arvid Carlsson und dem US-Amerikaner Paul Greengard für ihre Entdeckungen betreffend der Signalübertragung im Nervensystem).

Gerald Edelman und Giulio Tonini haben überzeugende Resultate ihrer Arbeiten am Neuroscience Institute in San Diego, Kalifornien 2000 in dem Buch „A Universe of Conciousness“ auch für einen weiten Kreis von Lesern (nicht nur Spezialisten) publiziert. Das Buch ist auch auf Deutsch unter dem Titel „Gehirn und Geist – Wie aus Materie Bewusstsein entsteht“ verfügbar. Teil ihres Forschungsprojekts war die Entwicklung eines umfassenden Computermodells der kortikalen Integration.

Ein anderer prominenter Neurobiologe ist Antonio Damasio. Er und dessen Frau Hanna betreiben Hirnforschung mittels Analysen an gehirngeschädigten Patienten. Damasio beschreibt, welche menschlichen Gehirnstrukturen wie aktiv werden und interagieren, um ein Selbst zu kreieren, das sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst wird bzw. ist. Damasios Arbeitshypothese unterscheidet drei Stufen des Selbst: 
  • Das Protoselbst ist eine neuronale Beschreibung relativ stabiler Aspekte des Organismus (zum Beispiel Sinneswahrnehmung, Immunsystem).
  • Ein Puls eines Kern-Selbsts wird erzeugt, wenn das Protoselbst durch eine Interaktion zwischen dem Organismus und einem Objekt verändert wird und sich dadurch die inneren Bilder (neuronale Karten) des Objekts verändern.
  • Das autobiografische Selbst tritt in Erscheinung, wenn Objekte aus der eigenen Biografie Pulse des Kern-Selbst entstehen lassen, die zu einem großen, zusammenhängenden Muster verbunden werden.
Damasio hat die Resultate seiner Arbeit unter anderem in dem Buch „Selbst ist der Mensch – Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins“ publiziert. Viele Aussagen Damasios gelten auch für weniger komplexe Gehirne als das menschliche. Insbesondere sind alle neurologischen Strukturen (d.h. Gehirne im weitesten Sinn) Organe mit der größten Dynamik und Plastizität.

Je mehr ich über Neurobiologie erfahren habe, desto mehr stellt sich mir die Frage, was menschliche Gehirne und menschliches Verhalten von tierischen Gehirnen und Verhaltensweisen unterscheidet. Offensichtlich sind nicht nur die Unterschiede der genetischen Programme von Schimpanse und Mensch relativ gering, sondern auch deren Funktionen des zentralen Nervensystems. Was macht Homo sapiens einzigartig?

Die Geschichte der Evolution neuronaler Strukturen ist eine sehr sehr lange Geschichte. Vor vielleicht drei Millionen Jahren muss aber etwas passiert sein, das den Beginn einer neuen Art in Richtung Homo markiert. Im Afar-Dreieck (Äthiopien) entdeckten Archäologen das Teilskelett eines als weiblich interpretierten Individuums der Art Australopithecus afarensis, dem sie den Namen Lucy verpassten. Spätere Stufen der Art Homo bis hin zu Homo sapiens unterscheiden sich in Größe und Komplexität ihrer Gehirne. Neurobiologen vermuten, dass in Lucys archäologischer Epoche Mutationen des genetischen Programmes der Primaten eine neue Fähigkeit der Kommunikation bewirkt haben, die die Lernfähigkeit gravierend verbesserten. Der älteste Fund eines biologisch modernen Menschen (Homo sapiens idaltu aus Äthiopien) sind 160.000 Jahre alte Schädelknochen. Mit der Fähigkeit „Warum“ zu fragen und Antworten auszuwählen, die seinem Interesse und Überleben dienlich sind, hat die Art Homo eine beachtliche Geistesgeschichte hingelegt.

Vielleicht helfen meine Aussagen, das Thema „Intelligenz“ etwas umfassender darzustellen. Daran anknüpfend erlaube ich mir noch einen zusätzlichen Hinweis hinsichtlich der unterschiedlichen Bedeutung von Physik und Biologie. Die kurze Geschichte der Technologie und Industrialisierung ist geprägt durch die Umsetzung (Anwendung) physikalischer Erkenntnisse in technischen Erfindungen. Mir scheint, dass sich derzeit mehr wissenschaftliche Mitarbeiter mit biotechnologischen Themen befassen als mit Fragestellungen der theoretischen Physik.

Am 10.7.2012, 21:13 Uhr, schrieb Hans Diel:

Bei Ihrer Antwort zeigt sich schnell und deutlich, dass Sie unter dem Thema Intelligenz etwas anderes verstehen als ich. Sicher haben Sie dabei die wissenschaftlich korrektere Definition. Sicher gibt es auch bei dem Thema, welches Sie mit Intelligenz assoziieren, große Fortschritte in der wissenschaftlichen Erkenntnis. Trotzdem glaube ich, dass es auf der Landkarte der wissenschaftlichen Erkenntnis einen (unter mehreren) großen weißen Fleck gibt, der für mich als Laien sehr beklagenswert ist. Um etwas präziser zu werden, hole ich etwas weiter aus.

Vor mehreren Jahren las ich ein Buch mit dem Titel 'Unsere einsame Erde'  von P.D. Ward und D. Brownlee (erschienen bereits in 2001). In diesem Buch erklären die Autoren, dass die Wahrscheinlichkeit im Universum weiteres intelligentes Leben zu finden deutlich geringer ist als bisher angenommen. In dem Buch werden dann alle Entwicklungsschritte, angefangen von der Sternen- und Planetenentstehung, über die Entstehung der Bakterien, der Tiere, und schließlich der Herausbildung von Intelligenz beschrieben. Es wird beschrieben, welche Faktoren dabei jeweils in ihrer Kombination wichtig waren. Für mich neu und erstaunlich war, dass anscheinend je besser man gewisse Prozesse heute versteht, umso deutlicher wird, wie sehr die Prozesse vom Zusammenspiel vieler Faktoren mit geringer Wahrscheinlichkeit abhängen.

Wie gesagt, bei den meisten dieser Entwicklungsschritte versteht man heutzutage viel besser als noch vor 50 Jahren, welche Faktoren wichtig sind für das Zustandekommen eines Schritts hin zur Entwicklung Intelligenten Lebens. Nur an zwei Stellen hatte ich den Eindruck, dass man heute nicht wesentlich mehr weiss als vor 50 Jahren (und dies bedeutet, man weiß immer noch relativ wenig). Das eine ist die Entstehung der Bakterien, und das zweite ist die Herausbildung von Intelligenz.

Um die schwierige Frage der Definition von Intelligenz zu umgehen, lassen Sie mich ein Gedankenexperiment erfinden. Nehmen Sie an, im Jahr 3000 hat man folgende Situation:

·    - Man kennt 300 Milliarden Planeten, die die mittlerweile bekannten Bedingungen für die Entstehung von Lebewesen wie den Tieren liefern.

o   Kommentar PH: Man kann nur Bedingungen angeben, die die Entstehung lebender Strukturen ermöglichen.  Es ist unmöglich Bedingungen anzugeben, die festlegen, wie die Evolution lebender Strukturen verlaufen würde.

·    - Man hat eine Kommunikationstechnik, mit der diesen Planeten innerhalb von Jahren Nachrichten zugesandt werden können.

o   Kommentar PH: Während jede Kommunikationstechnik denkbar ist, ist es unmöglich, den meisten der möglichen Planeten „innerhalb von Jahren“ eine Nachricht zukommen zu lassen. Im Universum muss man in gewaltigen Größenordnungen von Lichtjahren rechnen, die eine fortlaufende Kommunikation unmöglich machen.

·    - Man ist in der Lage Details der Lebensbedingungen auf diesen Planeten zu ermitteln (z.B. Klima, Artenvielfalt, Nahrungsvorhandensein, etc.).

o   Kommentar PH: Es ist unmöglich Bedingungen für Artenvielfalt zu ermitteln.

·     - Man möchte mit denjenigen Planeten in Kontakt treten, bei denen eine signifikante Wahrscheinlichkeit besteht, dass es dort "Intelligentes Leben" gibt .Aus gewissen Gründen (z.B. Budget) ist es wichtig, sich auf den kleineren Teil der 300 Milliarden Planeten zu konzentrieren, für die man die Wahrscheinlichkeit für "Intelligentes Leben" zu größer 1 % errechnet hat.

o   Kommentar PH: Eine Wahrscheinlichkeit für die Existenz „Intelligenten Leben“ anzugeben ist genauso unmöglich wie Bedingungen für die Existenz von Artenvielfalt. Trotzdem, unter der Annahme, dass alle möglichen evolutionären Verzweigungen seit Existenz eines ursprünglichen genetischen Programmes für eine solche Berechnung herangezogen werden könnten, ergäbe sich eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit einer speziellen Art. Um eine solche Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung (Evolution!) „Intelligenten Lebens“ auf der Erde anzugeben, müsste man  die Menge aller Mutationen aller genetischen Programme aller je gelebten terrestrischen Arten kennen. Die möglichen Mutationen müssten auch alle möglichen Kombinationen berücksichtigen, an welchen Stellen eines genetischen Programmes die Mutationen erfolgt sein könnten

·    - Als Planet der "Intelligentes Leben" beherbergt hat man ganz pragmatisch definiert "Der Planet beherbergt Lebewesen die in der Lage sind (a) unsere Signale zu empfangen und zu dekodieren, (b) unsere Darstellung des Satzes des Pythagoras als solches zu erkennen, (c) eine  Antwort zu schicken."

o   Kein Kommentar PH.


Meine Behauptungen: 

·    - Heute (2012) ist man nicht in der Lage, Faktoren anzugeben, die die Wahrscheinlichkeit für Leben einengen, zur Wahrscheinlichkeit für "Intelligentes Leben".

o   Kommentar PH: Wie bereits gesagt, eine Wahrscheinlichkeit für die Existenz „Intelligenten Leben“ anzugeben ist unmöglich. Ich vermute, dass keine speziellen Faktoren die Evolution des genetischen Programmes einer Nervenzelle bewirkt haben. Vermutlich handelt es sich bei Nervenzellen um die Anreicherung von Zelleigenschaften, die den Austausch von molekularer Information (nach innen und außen) ermöglichten. Ein ZNS ermöglicht komplexen Organismen zusätzlich den Austausch komplexer sinnlich wahrnehmbarer Informationen. Die Faktoren, die bewirken, dass sich ein individuelles „Ich“ intelligent verhält, vermute ich in gesellschaftlichen und sozialen Verhaltensregeln.
 
·    - Niemand versteht, wie es dazu kam, dass das Tier Mensch den Satz des Pythagoras gefunden hat, das Tier Löwe und Hund, etc. jedoch davon noch weit entfernt ist.  

o   Kommentar PH: Die Organismen einer Vielzahl von Ameisenarten sind hervorragend angepasst an vielfältige natürliche Umgebungen. Deren erfolgreiche genetische Programme werden unverändert von Folgegeneration übernommen. Das gleiche gilt für alle erfolgreichen Arten. Das Tier Mensch hat zusätzlich den Satz des Pythagoras gefunden, weil es als einzige Art die Fähigkeit besitzt (sein „Ich“), abstrakte  geistige Strukturen mit Hilfe geistiger Symbole  zu bilden und zu kommunizieren.  Wenn es darauf ankommt, haben die genetischen Programme der Ameisen die bei weitem bessere Chance zu überleben als das wesentlich komplexere genetische Programm des Homo sapiens.

Kommentar HD: Es geht hier nicht um die Wahrscheinlichkeit des Überlebens, sondern um folgendes: Nehmen Sie an die Menschheit stirbt aus (z.B. weil die Fortpflanzung aus medizinischen Gründen nicht mehr klappt). Halten Sie es für denkbar oder ausgeschlossen, dass in 100 Million Jahren irgendeine Spezies (z.B. Delphine) auf der Erde so intelligent ist, dass sie den Satz des Pythagoras entdeckt?

·     - Angenommen, es gibt auf der Erde 10000 Arten, die prinzipiell Kandidaten für Intelligenz  sind, aber nur eine Art, die man nach meiner willkürlichen Definition (Pythagoras, ... ) als intelligent bezeichnen kann. Niemand weiß, ob deswegen die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von "Intelligentem Leben" während der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Erde 1:10000 betrug, oder 1:100 oder 1:1000000.

o   Kommentar PH: Die biologische Evolution des Homo sapiens gilt als abgeschlossen. Eine Vergrößerung seines Gehirns wäre  anatomisch unmöglich, weil es die natürliche Geburt gefährden würde. Es gibt keine weiteren existierenden Kandidaten, die sich zu einem späteren Zeitpunkt mit Pythagoras befassen könnten. Wie bereits gesagt, eine Wahrscheinlichkeit für die Existenz „Intelligenten Leben“ anzugeben ist unmöglich.


Am 14.7.2012 schrieb Peter Hiemann:

Wenn ich Sie recht verstehe, bedauern Sie, dass biologischen Forschungsmethoden nicht vermocht haben und vermutlich ungeeignet sind, Beweise für den Beginn lebender Strukturen oder den Beginn selbstbezogenen (Ich bezogenen) menschlichen Bewusstseins zu liefern. Was Sie für eine generelles Manko der Biologen erachten, gilt meines Erachtens  auch für Physiker, wenn sie vor „Big-Bang-Fragen“, die physikalische Phänomene  betreffen, gestellt sind. 

Kommentar HD: Ich bedaure, dass die Wissenschaften (insbesondere die dafür zuständige Biologie) noch keine überzeugende Theorie oder Modell für „die Entstehung der menschlichen Intelligenz“ (nicht der Funktion intelligenter Prozesse im Gehirn ) gefunden haben. Ich halte die Biologie keineswegs für ungeeignet diese Aufgabe zu lösen. Ich bin sogar überzeugt, dass die Biologie die besten Verfahren, Methoden, und Leute hat um ihre offenen Fragen irgendwann zu klären. Ich halte nur das Problem für enorm schwierig. Es geht mir auch nicht um den „BEWEIS für den Beginn lebender Strukturen“. Die Tatsache, dass ich (und vieles andere) existiert ist mir Beweis genug. Nochmals: Ich sehe hier kein Manko der Biologen, sondern ein bedauernswertes Loch im Stand unserer Erkenntnis.

Um „Big-Bang-Fragen“ eines Systems anzugehen, müssen Systemzustände bedacht werden, wie sie vor dem entsprechenden „Big-Bang-Ereignis“ herrschten. Und genau das ist in vielen Fällen unmöglich. Der physikalische Zustand vor dem Urknall wird auch mit physikalischen Methoden nicht zu ergründen sein. Vermutlich hat es auch nach dem Urknall weitere physikalische „Big-Bang-Ereignisse gegeben. Können zum Beispiel Physiker die Frage beantworten, welcher Zustand geherrscht hat und welche Ursache bewirkt hat, dass das Higgs-Teilchen in die Welt kam ? Nach meinem Verständnis hat Peter Higgs lediglich postuliert, dass ein Higgs-Boson existieren müsste, um gewisse Eigenschaften anderer Elementarteilchen zu begründen. Nach meinem Verständnis wurde in einem LHC Experiment lediglich ein Elementarteilchen entdeckt, das Eigenschaften wie das postulierten Higgs-Bosons aufweist. Hat das LHC Experiment gezeigt, wie ein Higgs-Boson im frühen Universum entstand? 

Kommentar HD: Den Vergleich mit dem „Urknall“ halte ich nicht für passend. Der (deutsche) Begriff „Urknall“ wurde geschaffen mit der Idee eines Ereignisses, welches am Beginn von Allem (Raum, Zeit, Physik, Materie, Universum, Leben, etc. ) stand. Jede Theorie bzgl. der Entstehung des Urknalls ist dem zu Folge ein Widerspruch in sich selbst. Sie könnte höchstens dazu führen, dass das was man physikalisch bisher mit dem Urknall assoziiert, kein Urknall war sondern ein „Nahe-Urknall“ oder „Zwischen-Knall“.  Ganz anders sehe ich dies bei allen späteren Entwicklungsschritten des Universums bis zu dem jetzigen Zustand (und darüber hinaus). Da macht es viel mehr Sinn darüber zu forschen, wie diese im Detail verlaufen sind (zeitlicher Ablauf, die wichtigsten Faktoren). Schließlich glauben wir doch alle, dass diese Prozesse, bis auf bekannte Ausnahmen, mit den bekannten Naturgesetzen und Theorien „natürlich“ erklärt  werden können.Tatsächlich war es so, dass  schon 40 Jahre bevor das Higgs letzte Woche (vermeintlich) entdeckt wurde, es schon eine Theorie gab, wie und unter welchen Bedingungen (z.B. indem man zwei andere Teilchen mit sehr hoher Energie zusammenstoßen lässt) das Higgs entsteht. Damit meine ich nicht, dass man eine Theorie hat, wie überhaupt Materie während oder nach dem Urknall entstanden ist.

In Analogie zu physikalischen „Big-Bang-Ereignissen“ betrachte ich die ursprüngliche Erscheinung lebender Strukturen als biologisches „Big-Bang-Ereignis“ und das ursprüngliche Auftauchen selbstbezogenen menschlichen Bewusstseins als neurobiologisches „Big-Bang-Ereignis“.

Kommentar HD: Wie gesagt, der Vergleich mit dem „Big-Bang“ (=Urknall) gefällt mir nicht. Ihr Punkt kann auch gut ohne den Vergleich mit dem Big-Bang gemacht werden: Es gibt auch in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere der Physik) noch große ungelöste Fragen.

Ich bin nicht der Auffassung, dass mathematische Methoden (inklusive statistischen) und physikalische Experimente allein ausreichen werden, alle Phänomene der Natur zu erklären. Eine Theorie von Allem (Theory Of Everything, TOE), die alle bekannten physikalischen Phänomene erklären und verknüpfen könnte, wird sich wohl bald als eine Illusion der Physiker herausstellen. Zumal wenn Physiker glaubten, dass die TOE zu einer Theorie erweitert werden könnte, welche durch ein einzelnes Modell die Theorien aller grundlegenden Wechselwirkungen der Natur erklären könnte.

Kommentar HD: Ich möchte keine Prognose abgeben wann, oder ob überhaupt jemals, eine Theorie gefunden wird, die alle bekannten Kräfte und Wechselwirkungen mit einer einzigen Theorie erklärt. Ich halte es aber für sinnvoll nach einer solchen Theorie zu suchen. Für mich und für die Physiker ist es unbefriedigend, die Kräfte der Natur mit zwei unterschiedlichen, teilweise inkompatiblen Theorien zu erklären. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass eine solche Theorie, falls sie jemals gefunden wird, niemals den Namen Theory of Everything verdienen würde.

Ich beobachte, dass die Mehrheit der Naturwissenschaftler längst eine Vielzahl verschiedener Methoden benutzt, um verschiedenartige Wechselwirkungen der Natur zu analysieren und zu verstehen. Heute arbeiten Spezialisten der verschiedensten Wissensbereiche in biochemischen, molekularbiologischen, genetischen, medizinischen, biosynthetischen oder neurobiologischen Projekten zusammen. Dabei kommen aufwendige Geräte mit spektakulären technischen Funktionen zum Einsatz. Simulationen komplexer biologischer Netzwerke im Computer helfen, dynamische interaktive Prozesse besser zu verstehen. Dadurch werden die Methoden in vivo (im lebenden Organismus) und in vitro (im Reagenzglas) um Methoden in silico (wörtlich „im Silicium“) ergänzt .

Mit dem Computer können sogar Selbstorganisationsprozesse, wie die Bildung von Membranen aus Molekülen (Mizellen) oder die Faltung von Eiweißmolekülen untersucht und mit den Beobachtungen an natürlichen Systemen verglichen werden. Vermutlich sind wir gar nicht weit entfernt, lebende biologische Strukturen synthetisch herzustellen, die in natürlichen Umgebungen des Planeten Erden nicht existieren (siehe Stichwort Synthetische Biologie). Ob und wann es uns gelingt, ein „Big-Bang-Ereignis“ zu erleben, wie aus organischen Molekülen einfachste sich selbst organisierende, reproduktionsfähige Strukturen entstehen, bleibt abzuwarten.

Mit einem solchen Ereignis ist allerdings noch lange kein Leben entstanden, wie wir es kennen. Dazu bedarf eines weiteren „Big-Bang-Ereignisses“, nämlich der Entstehung eines genetischen Programmes. Dieses Programm bewirkt eine „kontrollierte“ Reproduktion seines Trägers, inklusive seines genetischen Programmes. Erst auf der Basis eines genetischen Programmes kann ein biologischer Evolutionsprozess wirksam werden. Dieser Prozess beruht auf nicht vorhersehbaren Veränderungen (Mutationen) des genetischen Programmes. Bei diesen Veränderungen kommt es zu Transfers, Verschiebungen oder Verdoppelungen genetischer Information. Im Laufe der Zeit bewirken Veränderungen eines existierenden genetischen Programmes viele Variationen biologischer Strukturen. Im Laufe der Evolution werden diejenigen biologische Variationen an die Folgegeneration  weitergegeben (selektiert), deren Funktionen mit der Umwelt in Einklang stehen. Sie bilden biologische Arten. 99,9 % aller jemals existierenden biologischen Arten sind wieder ausgestorben.

Die frühesten Spuren von Leben finden sich in Sedimentgesteinen, die sich nach Auffassung der Geologen vor 3,8 Milliarden Jahren auf der Erde gebildet haben. Vor etwa 2 Milliarden Jahren muss ein weiteres biologisches „Big-Bang-Ereignis“ stattgefunden haben. Zu dieser Zeit entstanden die ersten Einzeller mit Zellkern, die Vorläufer aller „höheren“ Lebensformen. Charakteristisch für später aufgetretene Lebensformen sind spezielle Gene (Hox-Gene), die für die Gliederung und Entwicklung des Embryos entlang seiner Körperlängsachse ‚verantwortlich‘ sind. Unterschiedliche Anzahl von Hox-Genen im genetischen Programm bewirken, welche Gene bei der Embryonalentwicklung jeweils in einem bestimmten Abschnitt exprimiert werden. Nach Auffassung der Biologen fällt die Herausbildung der Hox-Gene in die geologische Epoche des Kambriums. Zu Beginn des Kambriums vor etwa 543 Millionen Jahren traten fast gleichzeitig erstmalig Vertreter fast aller heutigen Tierstämme in einem geologisch kurzen Zeitraum von 5 bis 10 Millionen Jahren auf die Bühne. Die grundlegenden Körperbaupläne vieler mehrzelliger Tierstämme, die seitdem die Erde bevölkern, sind in Gesteinen dieser Epoche erstmals eindeutig überliefert. Die Rolle der Hox-Gene ist sehr gut erforscht durch das Vorkommen abnormer anatomischer Phänomene (Schimären) auf Grund veränderter genetischer Programme  der Fruchtfliege Drosophila melanogaster.

An dieser Stelle ist ein wichtiger Aspekt der biologischen Evolution erwähnenswert. Die biologische Evolution, die die heute auf der Erde beobachtbaren  Arten hervorgebracht hat, ist einmalig und nicht wiederholbar. Mit anderen Worten: Würde man die geologische Uhr auf einen Zeitpunkt zurückstellen, an dem erstmalig Leben aufgetreten ist und abwarten, was sich daraus entwickelt (evolviert), würden wir eine völlig andere Lebensvielfalt beobachten, als heute existiert. Aus diesem Grund darf man zwar annehmen, dass sich auf anderen Planeten ebenfalls lebende Strukturen gebildet haben, aber die Evolution dort zu völlig anderen Variationen geführt hat.

Welche Variation des menschlichen genetischen Programms könnte das „Big-Bang-Ereignis “ der menschlichen Intelligenz (die den Menschen vom Tier unterscheidet)  bewirkt haben? Diese Frage kann heute niemand beantworten, es gibt nur Hinweise, in welcher Richtung man suchen kann.Ich kann darüber so viel sagen:
  1. Der Unterschied des genetischen Programmes zwischen Schimpansen und Mensch besteht weniger in verschiedenartigen Genen, sondern darin, in welcher Weise Gene exprimiert werden. Beim Menschen sind viele Gene im genetischen Programm mehrfach angelegt. Mehrfach angelegte Gene werden häufiger exprimiert als einfach angelegte.
  2. Bei der embryonale Entwicklung eines Organismus spielen die Beziehungen bzw. Verknüpfungen beim Exprimieren verschiedener Gene eine entscheidende Rolle. Zwischen Schimpansen und Mensch vermute ich auch Unterschiede in der Verknüpfung genetischer Information. 
  3. Das Verhalten zwischen einem Menschenkind von drei Jahren und einem erwachsenen Schimpansen unterscheidet sich darin, dass der Schimpanse nicht in der Lage ist herauszufinden, warum etwas nicht funktioniert. Er wird immer die gleiche Handlung wiederholen. Das Menschenkind von etwa drei Jahren (aber nicht viel früher) wird versuchen herauszufinden, warum etwas nicht funktioniert. Es variiert seine Handlungen nach dem Prinzip „trial and error“.
  4. Das menschliche zentrale Nervensystem ist stabilisiert nach Vollendung der Pubertät, bleibt aber durch Erfahrungen lebenslang modifizierbar. Ich vermute deshalb, dass menschliches Verhalten nur zum Teil durch das genetische Programm eines Individuums bedingt ist (z.B. was die Wahrnehmungen betrifft). Zusätzlich hat das menschliche Gehirn die Fähigkeit,  ein individuelles „geistiges Programm“ zu kreieren, zu erhalten und zu modifizieren (zu „programmieren“ im weitesten Sinne, da das Gehirn auch neuronale Prozesse berücksichtigt, die nicht ins Bewusstsein vordringen).  
Abschließend noch ein paar Gedanken auf einer Abstraktionsebene, die zum besseren Verständnis des Phänomens Leben beitragen können: Leben unter dem Aspekt der Selbstorganisation.Ich vermag mehrere verschiedenartigen Ebenen der Selbstorganisation zu unterscheiden: 
  1. Eine sich selbstorganisierende, dynamische, geordnete dissipative Struktur in nichtlinearen Systemen fern des thermodynamischen Gleichgewichts durch Austausch von Energie, Materie oder beides mit ihrer Umgebung. Beispiele für dissipative Strukturen sind die Ausbildung von wabenförmigen Zellstrukturen in einer von unten erhitzten Flüssigkeit (Bénard-Effekt),  Strukturen an Phasengrenzen bei Strömungsvorgängen, Strukturen bei Fließgleichgewichten in der Biochemie.
  2. Eine sich selbstorganisierende biologische Zelle. Jede biologische Zelle organisiert ein strukturell abgrenzbares, eigenständiges und selbsterhaltendes offenes System mittels eines genetischen Programmes.
  3. Ein sich selbstorganisierender biologischer Organismus. Jeder biologische Organismus organisiert eine Vielzahl offener Systeme biologischer Zellen. Das genetische Programm des biologischen Organismus bewirkt die Differenzierung von biologischen Zellen, die sich zu selbstorganisierenden Organstrukturen zusammenfügen. Die Erhaltung eines biologischen Organismus ist nur durch Erhaltung all seiner organischen Bestandteile  möglich.
  4. Ein sich selbstorganisierendes Zentralnervensystem (ZNS). Das ZNS erfüllt in einem biologische Organismus spezielle Kommunikationsfunktionen, die für die Erhaltung des Organismus und der Anpassung des Organismus an dessen Umgebungsbedingungen unabdingbar sind. Das ZNS besitzt kein zentrales Steuerprogramm, vergleichbar einem genetischen Programm. Vielmehr verfügt das ZNS über die Fähigkeit, ein individuelles neuronales Netz aufzubauen, zu erhalten und zu modifizieren. Die Plastizität des ZNS, um mit vielfältigsten Problemsituationen zurecht zu kommen, ist Evidenz für dessen Selbstorganisation. Welche neurale Prozesse des ZNS letztlich die Koordination und Synchronisation aller inneren und äußeren Reize bewältigen, damit der Organismus ein „inneres Bild“ seiner selbst und seiner Umgebung zu konstruieren vermag, ist noch ungeklärt (es gibt die Arbeitshypothese des Dynamischen Kerngefüges).
  5. Ein sich selbstorganisierendes Ich. Das menschliche ZNS besitzt nicht nur die Fähigkeit, alle inneren und äußeren Reize zu koordinieren und zu synchronisieren, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, sich ein individuelles „Ich“ zu kreieren, zu erhalten und zu modifizieren. Der Mensch wird mit einem individuellen genetischen Programm geboren, das die Funktionen des ZNS enthält. Ein  individuelles „Ich-Programm“ entsteht aber erst im Laufe der geistigen Entwicklungen (Evolution?) einer Persönlichkeit (Identität).  

Am 16.7.2012 schrieb Peter Hiemann:

.... ich habe versucht, in meinen früheren Aussagen über evolutionäre Entwicklungen spekulative Aspekte zu vermeiden. Ich habe auch versucht zu verdeutlichen, dass bei evolutionären Entwicklungen Eigenschaften berücksichtigt werden müssen, die als 'emergent' bezeichnet werden. Ich habe diesen Ausdruck in seiner starken Bedeutung 'prinzipielle nicht erklärbar' verwendet. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass es andere vorziehen, den Begriff in der schwachen Bedeutung „vorläufige Nichterklärbarkeit eines emergenten Systems“ zu verwenden.

Den Versuch, mit einer Analogie 'ursprüngliches Auftauchen' = 'Big-Bang' evolutionäre Ereignisse mit emergenten Eigenschaften verständlicher darzustellen, muss ich wohl als gescheitert betrachten. Ich schließe mich dem Urteil, 'der Vergleich mit dem Big-Bang (=Urknall) gefällt mir nicht' an.


Ich (BD) habe mich in diese Diskussion bewusst nicht eingeschaltet. Vielleicht bringe ich meine Gedanken zu dem Thema später noch zu Papier, besser gesagt, in diesen Blog

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