Samstag, 29. August 2020

Gabor Steingarts Sozialstaatsmodell und Europa-Narrativ

Fast täglich lese (oder höre) ich derzeit Texte des Autors Gabor Steingart (*1962). Nicht immer haben sie mich derart beeindruckt wie die beiden Texte, die soeben in seinem Hörbuch mit dem Titel Die unbequeme Wahrheit (2020, 220 Seiten, 4:14 h Dauer) erschienen. Das Buch hat den Untertitel Eine Rede zur Lage unserer Nation. Beide Themen werden am Schluss dieses Buches behandelt.

Ein neues Modell für den deutschen Sozialstaat

 Bekanntlich sind wir Deutsche besonders stolz auf unsern Sozialstaat. Niemand fällt durch das Netz, das im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut wurde, sollte er in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, sei es aus gesundheitlichen oder andern Gründen, Kaum ein Politiker − der nicht gerade zur FPD oder AfD gehört − versäumt es, dies bei jeder Gelegenheit rühmlich hervorzuheben. Unterschlagen wird dabei fast immer, dass diese Absicherung auf Grundlagen beruht, die alles andere als stabil oder optimal sind.

An erster Stelle steht hier die sogenannte Rentenformel. Danach richtet sich die Höhe der Rente nach der Dauer der Beschäftigung und der Höhe des am Ende erreichten Lohnes oder Gehaltes. Die Rentenversicherung macht keine Rücklagen aufgrund der zu erwartenden Ansprüche, sondern finanziert sich aus den Beiträgen der noch aktiv im Arbeitsprozess befindlichen Mitglieder.  Wegen des Geburtenrückgangs verbunden mit der zunehmenden Lebensdauer der Alten übersteigt die Anzahl der Rentner die Anzahl der aktiven Mitglieder immer mehr. Eigentlich müssten die Renten laufend gekürzt und/oder die Versicherungsbeiträge laufend erhöht werden. Da dies politisch nicht durchsetzbar ist, griff man schon vor längerer Zeit auf einen Ausgleich mit Hilfe von Steuergeldern zurück. Die Allgemeinheit garantiert sozusagen, was der Staat einzelnen Bürgern versprochen hat.

Das Hauptproblem unserer heutigen Lösung besteht darin, dass die Altersversicherung mit dem Lohn- und Gehaltssystem gekoppelt, also an den lokalen Arbeitsmarkt gebunden ist. Eine Alternative wäre eine Absicherung durch eine Kapitaldeckung. Diesen Weg geht bekanntlich Norwegen seit Jahrzehnten. Die hier gewählte Form ist die eines Staatsfonds. Der große Vorteil ist, dieser Fonds ist von der Leistung der norwegischen Wirtschaft unabhängig. Anlagen werden da getätigt, wo gerade die Wirtschaft wächst und floriert. Das kann in Amerika, Afrika  oder Asien sein. Das einzige zu lösende Problem besteht darin, die notwendigen Experten zu gewinnen.

Ein Narrativ für Deutschland und Europa

Es gehört schon fast zum ständigen Klagegesang, dass es uns Europäern an der zündenden Idee für den Zusammenschluss mangelt. Vielleicht ist sie uns im Laufe der Jahre, in denen die Kriegserinnerungen in der Versenkung landeten, abhandengekommen. Gerade in Deutschland scheinen die Pessimisten und Grießkrämer die Wortführer zu sein. Es gibt so viele Dinge, vor denen Deutsche sich derzeit angeblich fürchten. Beispiele sind der Islam, Überflutung durch Afrikaner, Donald Trump, der technische Fortschritt, Datenmissbrauch und eine zweite Corona-Welle.

Dem allen könnte durch ein neues deutsches und gleichzeitig europäisches Narrativ entgegengetreten werden. In Frage käme ein kraftvolles Bekenntnis zu Europas Vielfalt und Eigenverantwortlichkeit. So käme kein anderer Erdteil an Europa heran, was die Vielfalt seiner im Weltmarkt aktiven Klein- und Mittelunternehmen betrifft. Rund 10.000 Unternehmen seien Familienunternehmen, die teilweise Weltmarktführer (engl. hidden champions) sind. Der Anteil dieser Firmen sei in Frankreich 80%, Spanien 83%, in Italien 85% und in Deutschland 90%. Ihnen seien etwa 60% aller Arbeitsplätze zu verdanken.

Die europäische Politik habe sich bisher oft zu großen Versprechungen verstiegen, an die man sich später nicht hielt, zuletzt im Vertrag von Lissabon im Jahre 2007. Würde man sich auf ein Narrativ im oben erwähnten Sinne einigen, hätten Europas Politiker Veranlassung, sich über die damit verbundenen Aufgaben Gedanken zu machen und ihre Politik drauf auszurichten. Das wäre ein signifikanter Fortschritt gegenüber den heutigen Gewohnheiten. Es versteht sich, dass ein Narrativ nur der Anfang einer breiten und lebhaften Diskussion sein kann. Wohin diese führt ist unklar, aber sie wäre für das Projekt Europa sehr befruchtend.

Es ist die chinesische Geschichte, die ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür liefert, welche Rolle Narrative haben können. Der Admiral Zheng He (1371-1435) hatte mit einer großen Flotte sieben Expeditionen im Pazifik und im Indischen Ozean unternommen und dabei über 50.000 km zurückgelegt. Nach seinem Tode entschloss sich die Regierung die großen Seereisen einzustellen und die Flotte zu verkleinern. Wenig später tauchten die ersten portugiesischen und britischen Schiffe vor Chinas Küsten auf. Sie übernahmen den Auslandshandel, vor allem den Handel mit Opium. Sie zwangen China in die Rolle eines Junior-Partners, eine Rolle, die China erst nach über 500 Jahren wieder abwarf. 

Nachtrag vom 31.8.2020

Steingarts obiges Buch ist voll von Anregungen und Spitzen gegen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich will noch einige davon erwähnen.

Wir werden von einer Apokalypsen-Regierung regiert und haben das RKI in unseren Köpfen (RKI = Robert-Koch-Institut, d.h. Deutschlands oberste Seuchenbehörde).

Ein weit verbreitetes Unbehagen lässt uns ahnen, dass sich gerade etwas ändert.

Wir retten das Gegenwärtige auf Kosten der Zukunft. Der Klimawandel tritt gegenüber Corona in den Hintergrund.

Wir werden von der Bundeskanzlerin dazu aufgefordert, das Händewaschen nicht zu vergessen.

Arbeitgeber und Gewerkschaften liegen zusammen in einem King-Size-Bett.

Der Sozialstaat produziert nicht die Wohlfahrtsmittel, die er verteilt.

Schon vor der Pandemie gab es bei uns ein Dienstleitungsproletariat.

Der produktive Kern der USA ist das Silicon Valley. Er wird von der Pandemie unberührt gelassen. Auch China pflegt seine produktiven Kerne, etwa in Shenzhen.

Der Fluss vom produktiven Kern zur Kruste hin ist wichtig. Durch Bildung entsteht ein Nachwachsen des produktiven Kerns. Wenn der Kern schrumpft, leiden in erster Linie die Krustenbewohner. Eine Aufgabe des Staates ist die Ausbalancierung zwischen Kern und Kruste.

Der Versuch Komplexität zu reduzieren ist meist ein Fehler. Das gilt sowohl für Globalisierung wie für Digitalisierung, aber auch für Ökologie und Ökonomie.

Der Staat kann die Wirtschaft nicht beaufsichtigen. In der Zukunft wird es nur dann genug starke Unternehmer geben, wenn heute genug junge Leute dies selber sein wollen.

Nur die USA und Israel versprechen Immigranten eine erfolgreiche Zukunft. Beide Länder ziehen einen großen Nutzen daraus.

Mittwoch, 26. August 2020

KI aus Sicht einer in Deutschland lebenden Ausländerin

Kenza (196x) ist eine gebürtige Marokkanerin, die in Berlin lebt. Ihr voller Name lautet Kenza Ait Si Abbou Lyadini. Sie ist als Senior Manager Robotics and Artifical Intelligence bei der Deutschen Telekom in deren IT-Bereich tätig. Sie hat ein Buch vorgelegt mit dem Titel Keine Panik, ist nur Technik (2020, 224 Seiten). Das Buch hat den Untertitel: Warum man auf Algorithmen super tanzen kann und wie wir ihnen den Takt vorgeben. Es ist ein Einstieg für alle, denen die Angst vor Technik zu schaffen macht.

Mehr über die Autorin

Die Autorin sagt von sich, dass sie als kleines Mädchen ihre Mutter gebeten habe, ihr Rechenaufgaben zu geben, sowie ein Heft mit Stift, um Lösungen einzutragen. Diese Faszination fürs Rechnen habe sie später auf den PC übertragen. Heute brenne sie für die Themen KI (künstliche Intelligenz), Diversity und Networking.

Sie genoss eine Ausbildung zum Bachelor of Engineering an der Universität Valencia. Daran schloss sich ein Master of Engineering an der Technischen Universität Berlin. Sie nahm am Führungskräfteentwicklungsprogramm der Deutschen Telekom AG teil. Außerdem besitzt sie den Titel Certified Scrum Master der Scrum.org. Ihr Berufsweg führte von der Telecom S.L. in Valencia und Barcelona zur T-Systems, einer Tochter der Deutschen Telekom in Berlin. Sie war hier zunächst als Senior Project Manager - Line Office of Strategic Deals & Solutions tätig. Zwischendurch arbeitete sie als freier Mitarbeiter (engl. Freelance) für Porsche, Volkswagen, Audi, Air Berlin, Hermès, L’Oréal, und IBM. Die Autorin engagiert sich in der Werbung für MINT-Berufe bei Frauen und tritt in Vorträgen und Diskussionsbeiträgen ein für Frauen und Technik.

Ausgewählte Themen

Die 13 von der Autorin ausgewählten Themen sind in der folgenden Liste wiedergegeben. Sie kreisen zwar um das das Unterthema KI, adressieren aber auch Fragen der Technik-Akzeptanz im weiteren Sinne.

  • Die kunterbunte Welt der Technik (Unbegründete Ängste)
  • Denk doch mal nach, Maschine! (Codes und Algorithmen)
  • Wie künstliche Intelligenz das Tanzen lernt (Was KI von uns braucht)
  • Leider entsprechen Sie nicht unseren Anforderungen (Wie Daten verzerrt werden)
  • Auch Maschinen wollen nur das eine (Programme entscheiden über Geld)
  • Die Kunst, Angst in Zahlen auszudrücken (Anwendungen in der Versicherungsbranche)
  • 'Sie kenne ich doch. Sind sie nicht gestern bei Rot über die Ampel gegangen?' (Gesichtserkennung)
  • 'Baby, you can drive my car' (Autonomes Fahren)
  • Man erntet, was man codet (Roboter in der Ernährung)
  • Mit KI gegen Stürme, Eis und Hitzewellen (Anwendung im Umweltschutz)
  • Chefvisite beim RoboDoc (Digitalisierung im Gesundheitswesen)
  • Computer wie wir (Liebe in Zeiten der Algorithmen)
  • Ich hack mir die Welt, wie sie mir gefällt (Besseres Leben dank Technik)

Bewertung einiger KI-Techniken im Hinblick auf ihre Anwendungstauglichkeit

Auf zwei KI-Anwendungen verlässt die Autorin sich fast täglich. Sie macht häufigen Gebrauch von Jelbi. Das ist ein KI-System der Berliner Verkehrsbetriebe, das für die jeweilige Tageszeit die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten im Berliner Verkehrsverbund berechnet. Sie verlässt sich zu 100% darauf, dass aller Spam aus ihren E-Mails entfernt wurde. Das war noch vor 10 Jahren eine lästige Angelegenheit, bevor sich eine KI-basierte Lösung durchsetzte.

Nicht ganz so weit haben es einige Anwendungen gebracht, über die schon lange gesprochen wird. Die Autorin sieht in ihnen jedoch ein großes Potential. Zwei Beispiele: An der Gesichtserkennung wird an vielen Stellen gearbeitet. Offensichtlich wurden bisher nur Teilerfolge erzielt. Alle Welt träumt davon, dass der Vergleich mit dem Passbild demnächst zur Identifizierung ausreicht. Das würde eine Unzahl neuer Anwendungen ermöglichen, von der Eingangskontrolle zu Gebäuden bis zum Abschluss von Handelsgeschäften. Sehr bezeichnend ist die Tatsache, dass die besten Ergebnisse bei weißen Männern erreicht werden. Afrikaner, Asiaten und Frauen schneiden schlechter ab. Das liege am Fehlen von Testdaten. Dass der Kühlschrank aufgrund seines Inhalts einen Essensvorschlag macht, wird wohl noch eine Weile Zukunftsmusik sein.

  
Hoffnungen und Mängel

Man spricht von Starker KI, wenn die Maschine mehrere Intelligenzen besitzt. Das gibt es vielleicht in 30 Jahren, wenn überhaupt. Es gibt (noch) keine KI, die aus verzerrten Trainingsdaten nicht-verzerrte Ergebnisse erzielt.

Die Autorin hält sich für eine Verfechterin für Gleichberechtigung und Diversität. Ihr missfällt es, dass die Attribute ‚durchsetzungsfähig‘ und ‚zielstrebig‘ hauptsächlich auf Männer bezogen werden. Sie kommen bei Bewerbungen von Frauen noch kaum vor. Wenn alle Bewerbungen von derselben Jobbörse vermittelt werden, sei die Gleichbehandlung von Männern und Frauen nicht zu erreichen. besonders dann, wenn KI-Software eine entscheidende Rolle spielt. Lerndaten können zu einer Einseitigkeit (engl. bias) führen, wenn sie vorwiegend von männlichen Bewerbern stammen. Auch die automatische Gesichtserkennung und Spracherkennung leiden darunter, dass mehr getan wird für Männer als für Frauen.

Neuere Anwendungen

Durch KI wird ein Präzisions-Ackerbau ermöglicht. Die Firma Microsoft hat sich damit in Indien engagiert. Für einen Einsatz zur Pränatalen Feindiagnostik per Ultraschall wäre die Autorin ein interessierter Kandidat. Dass Roboter im OP dem Arzt dabei helfen, indem sie ein Endoskop mit einer kleinen Kamera führen, findet sie in Ordnung. Jeder, der über KI redet, erwähnt das Selbstfahrer-Dilemma (engl. trolley problem). Das ist die Frage, wer im Zweifelsfall Vorrang bekommt − wenn nur einer überleben kann − das Kind oder die Oma. Es ginge dabei um Prinzipienethik (Kant) versus Nutzenethik (Utilitarismus).

Stolpersteine

Nicht allgemein bekannt sind einige der Fehlleistungen, auf die das Buch aufmerksam macht. Die Autorin muss die Kenntnis darüber in ihrer praktischen Arbeit gewonnen haben. Zwei Beispiele: Wer mit einem iPhone oder iPad von Apple ein Hotelzimmer bucht, muss möglicherweise mehr für das Zimmer bezahlen als jemand, der-ein Gerät eines anderen Herstellers verwendet. Obwohl WhatsApp für die Anwendung End-zu-End-Verschlüsselung bietet,  ist es nicht auszuschließen, dass Werbung generiert wird, der das Gesagte als Basis dient.

Selbst-Darstellung

 
Lassen wir am Schluss Kenza Ait Si Abbou selbst zu Wort kommen, die ja schon seit 15 Jahren in der IT-Branche arbeitet:

Wir müssen nicht plötzlich alle programmieren können – aber wir müssen all unsere Erfahrung einbringen. Damit die Technik den Menschen bestmöglich unterstützen kann. Damit Artifical Intelligence Aufgaben übernehmen kann, die uns freier in unserer Zeit- und Zukunftsgestaltung machen. Dies kann umso besser gelingen, je mehr Informationen wir für die Robotik zur Verfügung stellen können. Durch authentische und diverse Teams, die die Vielfalt der Zukunftswünsche und auch –ängste spiegeln. Als Frau bringe ich hier eine andere Sichtweise als meine oft männlichen Kollegen ein. Meine internationale Erfahrung gibt mir die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Meine Erfahrungen aus Job, Familie und Lernen bieten mir eine fundierte Basis. Das ist es, was ich in meinen Vorträgen, Talks und Workshops weitergebe.

Sonntag, 23. August 2020

Leserbrief Informatik Spektrum

Der nachfolgende kurze Text ging heute als Leserbrief zu Informatik Spektrum 43,4 (August 2020) an den Springer-Verlag. Bis zu seinen Erscheinen kann noch einige Zeit vergehen. Er kann auch gar nicht erscheinen.

Mit großem Interesse las ich die Beiträge in der Jubiläumsausgabe des Informatik-Spektrums. Lediglich der Beitrag des Kollegen Wolfgang Reisig reizt mich zu einer Reaktion. Der Beitrag hat den Titel  Informatik – eine eigenständige Wissenschaft? Durch zwei darin behandelte Unterthemen fühlte ich mich direkt angesprochen. Es sind dies die Abschnitte 4 (Invarianten in der Informatik) und 5 (Informationsbegriff). In Beidem kommt ein grundlegender Unterschied zwischen Theoretikern und Praktikern zum Vorschein, was die Herangehensweise an die Informatik betrifft. Theoretiker suchen in der Informatik manchmal Dinge, die für Naturwissenschaften Sinn machen, aber in einer Ingenieurwissenschaft keine Relevanz haben.

Thema Invarianten

 Reisig empfiehlt die Suche nach sogenannten Invarianten bei den sieben gelisteten Aufgaben: 

  • ein Reisebüro eine Reise bucht, 
  •  ein Bankkunde an einem Automaten Bargeld abhebt,
  •  eine Lebensversicherung einen bestehenden Vertrag auf eine neue Hardware umstellt,
  • eine Autoversicherung einen Schaden reguliert
  • ein Rechenzentrum das Wetter von morgen berechnet,
  • ein Betriebssystem den Speicher aufräumt,
  • ein Compiler ein Programm übersetzt.

Natürlich ist es sinnvoll, ja notwendig ein gemeinsames grammatikalisches Modell zu verwenden, damit eine Übertragung auf Programmierkonzepte möglich ist. Dass da viel mehr dahinter stecken könnte als das, was zum Modellieren und Programmieren nützlich sein könnte, leuchtet mir nicht ein. Ich weiß auch nicht, wozu es nützlich wäre. Reisig spekuliert irgendwie drauf los: ‚Derzeit ist das alles Spekulation; es loht aber, systematisch nach Modellierungstechniken zu suchen, die im Vergleich mit bisherigen Konzepten weit abstraktere und weniger naheliegende, aber dennoch intuitiv verständliche Begriffe und Invarianten verwenden.‘‘ Nach meiner Meinung lohnt sich das wirklich nicht. Wir sollten uns davor hüten, andere Kollegen – vor allem jüngere – in die Irre zu leiten.

Thema Informationsbegriff

Reisig schreibt: ‚Eine konstruktive Definition eines solchen Informationsbegriffs ist nicht in Sicht…. Man sollte präzise formulieren können, was genau sich ändert und was gleich bleibt beim Kopieren, Löschen oder Zusammenfügen von Informationen oder Dokumenten. …Eine weitere interessante Eigenschaft eines solchen Informationsbegriffs sind informationserhaltende Operationen: … Vielleicht gelingt die Charakterisierung spezieller Informationsbegriffe über die Operationen, die mit ihnen in einem jeweils gegebenen Kontext möglich oder erlaubt sind.‘

Auch hier kann ich Reisig nicht folgen. Für mich ist Information das Tupel bestehend aus Benennendem und Benanntem [1]. Auch mit vielen anderen Informationsbegriffen konnte ich bisher nichts anfangen. Wenn einer der beiden Konstituenten des Tupels fehlt, oder falsch geschrieben wurde, ist die Definition unzutreffend und unzulässig. Das mag einem Theoretiker missfallen, entspricht aber der Realität am meisten.

Referenz

 1. Informationsbegriff nach Hans Diel, Albert Endres und Peter Hiemann:

https://bertalsblog.blogspot.com/2011/09/information-in-der-informatik-erneuter_12.html

Dienstag, 18. August 2020

Erinnerungen an Peter Hiemann (1935 - 2020)

Die Nachricht, dass Peter Hiemann verstorben ist, hat mich sehr getroffen. Peter Hiemann war einer meiner langjährigen Kollegen und Freunde. Zusammen mit Hans Diel, der im Oktober 2019 starb, bildeten wir ein Dreierblatt, das sich in den letzten 10-15 Jahren sehr intensiv austauschte und sehr ähnliche Interessen verfolgte.



Hiemann in Grasse 2010

DDR-Zeit

Hiemann wurde in Dresden geboren. Er mochte diese Stadt und Ihre Menschen sehr. Er zeigte gerne den Teil der sächsischen Mentalität, die wir Deutsche schätzen. Er war stets pünktlich und verlässlich, und mit Elan bei allem, was er anfing. Er verschonte seine Mitmenschen von der oft bei Sachsen anzutreffenden Hochnäsigkeit und Penetranz.

Wie ein belastender Albtraum verfolgten ihn sein ganzes Leben lang die Erfahrungen, die er mit dem Gesellschaftssystem der damaligen DDR machen musste. Ihm behagte weder die politische Einseitigkeit, die von der Sozialistischen Einheitspartei (SED) vorgegeben und durchgesetzt wurde, noch schätzte er die Vorgaben und Beschränkungen, die ihm und allen DDR-Bürgern bezüglich ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betätigung auferlegt wurden. Er zog – so wie viele andere junge Menschen – die einzige sinnvolle Konsequenz und verließ die DDR – sobald er konnte – fluchtartig in Richtung Westen. Kurz nach Beendigung seines Mathematik-Studiums verließ er seine Heimat und suchte eine Anstellung in München. Diese übte er nur kurze Zeit aus, bevor er sich im IBM Labor in Böblingen bewarb.

 


Hiemann und meine inzwischen verstorbene Frau

IBM-Zeit

Ich muss einer der IBM-Kollegen gewesen sein, der ein Einstellungsgespräch mit Hiemann führte. Jedenfalls bewog es Hiemann, am Wochenende vor seinem Arbeitsantritt meine Familie und mich in unserer Privatwohnung zu besuchen. Wir wohnten in einem der Nachbardörfer von Böblingen. Vielleich fand er meine Adresse im örtlichen Telefonbuch. Er begründete den Besuch mit dem Wunsch, zu erfahren wie ich lebte. Meine Frau und meine Kinder fanden den Besucher umgänglich und interessiert und gaben zu allem, was er wissen wollte, ausführliche Auskunft. Von den zahlreichen Neueinstellungen, die ich vornehmen durfte, ist mir kein anderer Fall in Erinnerung, der den Dingen in solcher Weise auf den Grund ging.

Hiemann durchlief innerhalb von 2-3 Jahren eine Laufbahn als Software-Entwickler für die vom Labor Böblingen betreuten Systeme. Es handelte sich dabei um Rechnersysteme, die etwa die Größe eines Schreibtischs hatten, und meist bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen im Einsatz waren. Neben der Entwicklertätigkeit war Hiemann auch an administrativen und Führungsaufgaben interessiert.

 


Auf Terasse zusammen mit Ehefrau Geneviève

Diejenige Management-Aufgabe, die Hiemann mit großer Umsicht und besonders viel Leidenschaft ausübte, betraf die Leitung des World Trade Systems Center (WTSC) in Böblingen. Das WTSC war eine Art Bindeglied zwischen Entwicklung und Vertrieb. Böblingen war das einzige solche Zentrum in Europa. Zentren in den USA waren an vier Orten: Raleigh, NC, Rochester, MN; Boca Raton, FL und Palo Alto, CA. Es war die Aufgabe eines WTSC vor der Ankündigung eines neuen Produkts dafür zu sorgen, dass alle Länder und Vertriebsregionen die entsprechenden Ausbildungskapazitäten und Verteilungswege für Systemliteratur aufgebaut hatten. Auch wurden Installations-Tipps und Nutzererfahrungen gesammelt und dokumentiert (Rote Bücher). Die Mitarbeiter arbeiteten teilweise auf Basis von temporären Abordnungen, und kamen aus der ganzen Welt. Böblingen hatte einen Stab von 12-15 Mitarbeitern.

Nach mehreren Jahren in der Leitung des WTSC Böblingen wechselte Hiemann zu einem internationalen Prestige-Projekt. Das Projekt Amadeus hatte das Ziel, ein gemeinsames Flugreservierungssystem für alle europäischen Fluglinien wie Lufthansa, Air France und Iberia zu schaffen. Hiemann übernahm die Leitung des Projektbüros mit Sitz in Antibes, Frankreich. Das Projekt wurde ein Erfolg. Das vor 30 Jahren den Fluggesellschaften übergebene System ist heute noch im Einsatz.



Erfrischungen
 
Unruhestand

Nach 30-jähriger IBM-Zugehörigkeit trat Hiemann in den Ruhestand. Er hat seinen Lebensmittelpunkt und seine zweite Frau an der französischen Riviera-Küste gefunden. Er lebte in Grasse, am Abhang der Seealpen.

Wie bei mehreren Kollegen so gelang es auch ihm, sich in einen geistigen Unruhezustand zu begeben. Er las sehr viel und verfolgte vielseitige Themen. Ich muss mir zugutehalten, dass ich Hiemanns Interesse für den deutschen Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998) entfacht habe. In vielen seiner Blog-Beiträge machte er sich Luhmanns Gesellschaftsmodell zu eigen. Aber auch andere Soziologen und Philosophen fanden seine Beachtung, so Bruno Latour, Douglas Hofstadter und – vor allem – Konfuzius. Die Sprüche des Konfuzius aus der Zeit von 500 vor Chr. hatten es ihm besonders angetan.

Nichts bestimmte Hiemanns Sicht der Welt mehr als die neueren Erkenntnisse der Molelular-Biologie.  Er war auf diesem Gebiet sehr belesen und war bemüht allen Ereignissen eine streng wissenschaftliche Erkärung zu geben. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er die Grenzen biologischen Denkens weit über das hinauszog, was dem Stand des Wissens entspricht.

Interessensgebiete

Ohne die über 100 Beiträge, die aus Hiemanns Feder stammen, hätte Bertals Blog nicht die Breite und die Aktualität, die er bekommen hat. Die nachfolgende Liste der 20 letzten Hiemann-Beiträge vermittelt ein Gefühl für die von ihm behandelten Themen. Der überwiegende Teil der Kommentare zu meinen Einträgen stammt ebenfalls von Hiemann. Wir befanden uns sozusagen in einem andauernden Dialog, wobei die Entfernung sich innerhalb von Sekunden auflöste.

 Titel   Datum 
Entscheiden: Über Wahrnehmung und Denk- und Verhaltensweisen  11.08.2020 
Peter Hiemann zum Thema Selbstorganisation22.06.2020
Peter Hiemann über Nachhaltigkeit 17.06.2020
Von individueller Orientierung zur gesellschaftlichen Kultur 28.05.2020
Ethik, Moral und Recht als Basis von Wertvorstellungen11.05.2020
Denk- und Verhaltensweisen in Corona-Zeiten 26.03.2020
C'est la Vie (oder der Autor im Krankenbett) 23.01.2020
Ökosoziale Orientierung 12.12.2019
Sinnsuche des Individuums 22.10.2019
Ökosoziale Planung nach Niklas Luhmann und Bruno Latour 11.10.2019
 Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Kritik – wenn auch etwas verspätet  24.07.2019
Ziele und Methoden globaler Politik 15.07.2019
Meinungsbildung und Orientierung in Europas Gesellschaften03.07.2019
Auf den Spuren des Geistes 14.06.2019
Wert-orientierte und erkenntnis-orientierte Vorstellungen12.04.2019
Perspektiven des Denkens - ein Zettelkasten 22.03.2019
Technologie und Ökonomie18.11.2018
Einschätzung moderner Computertechnologie 08.10.2018
Sind Wenn-Dann-Fragen nutzlos und daher zu vermeiden? 31.07.2018

Hiemanns Blog-Beiträge der letzten 2 Jahre

 

 

 Abschied

Gesundheit und Hinscheiden

Hiemanns letzte Jahrzehnte wurden durch ein Krebsleiden überschattet, das ihn am Sprechen hinderte. Bei meinem letzten Besuch in Grasse vor 10 Jahren bediente er sich einer Sprechhilfe. Man verspürte die Mühe, die dies bereitete. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Ausführlichkeit und Schnelligkeit er schriftliche Texte verfasste. Hiemann verstarb am letzten Sonntag, den 16.8., bei sich zuhause, in Anwesenheit mehrerer Familienangehöriger. Ihnen gilt mein aufrichtiges Beileid und Mitgefühl.